Somerset Maughams Kunst, Gesichter zu beschreiben

Somerset Maugham verstand es, Gesichter so zu zeichnen, dass sie sich sofort in das Gedächtnis des Lesers brannten. Er nutzte präzise Beobachtung, um Anatomie, Ausdruck und Charakter in wenigen Sätzen zu vereinen. Dabei schrieb er weder blumig noch sentimental, sondern sachlich und doch tief menschlich.

Beobachtung als Grundlage

Maugham begann oft mit einer nüchternen Bestandsaufnahme. Er beschrieb Form und Struktur, als würde er sie zeichnen, nicht bewerten. Ein schmales Kinn, eine breite Stirn, die feine Linie zwischen Nasenflügel und Mundwinkel – jedes Detail war eine Spur, die zum Charakter führte. Diese Haltung hilft, das sinnliche Potenzial eines Gesichts ohne Klischees freizulegen.

Beispiel:

Sie lehnte im Schatten der Veranda, das Kinn schmal, die Lippen weich und etwas geöffnet, als hätte sie eben geseufzt. Die Haut an den Wangen war zart, doch auf den hohen Bögen lag ein Schimmer von Schweiß, wie er nach einem langen Nachmittag im Garten zurückbleibt. Ihre Augen, leicht zusammengekniffen, musterten mich, als prüften sie, ob ich das Licht hinter ihnen bemerkte.

Hier verbinden sich Beobachtung und Sinnlichkeit, ohne dass ein Werturteil fällt. Die Beschreibung erlaubt dem Leser, ihre Präsenz körperlich zu spüren.

Sinnlichkeit durch präzise Details

Sinnlich wird ein Porträt nicht durch Adjektive wie „sexy“ oder „verführerisch“. Es entsteht, wenn die Beschreibung körperlich erfahrbar wirkt. Die Spannung der Haut, der feuchte Glanz auf der Unterlippe, das Nachfedern eines Wimpernschlags – diese Details sprechen direkt zu den Sinnen.

Beispiel:

Ihr Haar fiel lose über die Schläfen, einzelne Strähnen klebten an der feinen Haut darunter. Als sie lachte, hob sich ihr Kinn, und der Hals streckte sich, bis das kleine Grübchen oberhalb des Schlüsselbeins sichtbar wurde. Der Blick wanderte unwillkürlich tiefer, zu der leichten Rundung, wo sich der Ansatz ihrer Brüste unter dem Kleid wölbte.

Die sinnliche Wirkung entsteht, weil das Auge des Erzählers natürlich über den Körper gleitet. Die Anatomie wird klar benannt – Stirn, Hals, Schlüsselbein, Brustansatz –, ohne dass sie moralisch markiert wird.

Psychologie zwischen den Zeilen

Maugham deutete oft an, wie sich ein Gesicht verändert, wenn Gefühle es durchziehen. Eine flüchtige Anspannung um den Mund, ein Augenaufschlag, der länger dauert als nötig – solche Beobachtungen verraten, was Worte nicht sagen.

Beispiel:

Als er ihren Namen sagte, veränderte sich etwas um ihre Augen. Die Pupillen wurden größer, und die Haut unter ihnen spannte sich, als hielte sie den Atem an. Für einen Augenblick sah sie aus, als wollte sie sich wegdrehen, und tat es doch nicht.

Die körperlichen Veränderungen tragen die Emotion. Sie wirken direkter als eine bloße Behauptung wie „Sie war nervös“.

Anwendung für erotische Prosa

In erotischer Literatur können solche Gesichtsbeschreibungen eine Szene intensivieren, ohne explizite Handlung zu schildern. Ein Blick, ein Atemzug, ein Muskelspiel – sie können stärker erregen als ein schneller Sprung zur körperlichen Vereinigung. Die Sinnlichkeit steckt im genauen Hinschauen.

Als Autorin oder Autor kannst du dich dabei an drei Prinzipien halten:

  1. Beobachte anatomisch, nicht wertend.
  2. Nutze sinnliche Details, die die Sinne des Lesers ansprechen.
  3. Lass Gefühle durch Mikroveränderungen im Gesicht sichtbar werden.

Writing Prompt:
Schreibe eine Szene, in der deine Protagonistin an einem Sommerabend im Gespräch mit jemandem steht, der sie heimlich begehrt. Beschreibe ausschließlich ihr Gesicht, ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés, während das Licht langsam wechselt. Nutze präzise, anatomische und sinnliche Details, um sowohl ihre physische Präsenz als auch die Spannung zwischen den Figuren zu vermitteln – ohne ein einziges Mal das Wort „schön“ zu verwenden.


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