Die legendären ABC-Parties: Anything But Clothes

Ich war 19, als ich meine erste ABC-Party besuchte. Der Begriff sagte mir nichts, bis mir eine ältere Schwester in unserer Verbindung sagte: “You’ll love it. Just be creative. And remember – anything but clothes.”

Ich dachte an Fasching, an Bastelprojekte, an Glitzer und Fantasie. Ich dachte nicht an die Blicke. Nicht an das Frösteln. Nicht an den Moment, in dem ich am Türrahmen zögerte, weil ich plötzlich wusste, dass ich gesehen werden würde – ganz anders, als ich es gewohnt war.

Heute denke ich mit gemischten Gefühlen an diese Partys zurück. Und ich bin nicht die Einzige.


Kreativ, sexy, aufregend – aber auch eine Bühne für Unsicherheit

ABC-Partys – “Anything But Clothes” – sind ein fester Bestandteil des amerikanischen Greek Life. Wer dazugehören will, weiß: früher oder später wird man eingeladen. Und irgendwann steht man in der Küche und bastelt sich ein Outfit aus allem, was kein Stoff ist:
Müllsäcke. Zeitung. Alufolie. Frischhaltefolie.
Und das ist der Punkt: Es ist nicht nur ein Outfit. Es ist eine Aussage.

“Ich hatte damals einen Einteiler aus Duct Tape gemacht,” erinnert sich Lisa, die zwei Jahre nach mir in unsere Verbindung aufgenommen wurde. “Das sah cool aus, war aber so eng, dass ich den ganzen Abend kaum sitzen konnte. Aber ich wollte dazugehören.”

Was viele unterschätzen: Diese Partys sind mehr als ein Spiel mit Materialien. Sie sind auch ein Spiel mit Schamgrenzen – und nicht alle spielen freiwillig mit.


Erstis im freien Fall

Gerade Freshmen, also Erstsemester, trifft es oft am härtesten. Viele kommen frisch aus dem Elternhaus, sind zum ersten Mal allein, wollen Anschluss finden – und stehen plötzlich in einem fremden Wohnheimzimmer und sollen sich ausziehen, um sich in Luftpolsterfolie einzuwickeln.
Was aussieht wie Mut, ist oft Unsicherheit in Verkleidung.

“Ich hab mir ein Kleid aus Zeitungen gebaut,” sagt Anouk, heute Studentin im dritten Jahr. “Davor hab ich im Bad geweint. Nicht wegen des Kleids. Sondern weil ich wusste, dass ich mich in dem Ding nicht wohlfühlen würde. Aber ich hatte Angst, als Spaßbremse dazustehen.”

ABC-Partys funktionieren über ein unausgesprochenes Regelwerk: Wer mitmacht, wird akzeptiert. Wer zögert, gilt als prüde. Und wer auf halbem Weg aussteigt – weil das Outfit verrutscht, weil jemand zu nah kommt, weil man plötzlich Panik bekommt – steht schnell alleine da.


Das Spiel mit der Sichtbarkeit

Natürlich gibt es auch andere Erfahrungen. Studentinnen, die sagen: “Endlich konnte ich meinen Körper feiern.”
Ich selbst erinnere mich an eine Party, bei der ich mich zum ersten Mal wirklich schön fühlte – weil ich selbst entschieden hatte, wie viel ich zeige. Weil mein Outfit – ein umfunktioniertes Bettlaken, asymmetrisch geknotet – meine Idee war, mein Ausdruck.

Aber genau das ist der Unterschied: Freiheit braucht Wahlmöglichkeiten. Und die fehlen auf vielen dieser Partys.

Denn Saran-Wrap ist nicht einfach „witzig“. Er ist durchsichtig. Müllsäcke sind billig – aber auch reißbar. Und wer denkt, Frischhaltefolie sei eine stabile Barriere, hat noch nie erlebt, wie sie sich bei Hitze und Bewegung vom Körper löst.

Zwischen Flirt, Aufmerksamkeit – und Dingen, die kippen

Ich will nichts beschönigen: Es gibt Abende, an denen alles leicht ist. Da fühlst du dich gut, wirst angeschaut, vielleicht sogar bewundert. Du tanzt in deinem Tape-Kleid durch den Raum, jemand reicht dir einen Shot, du lachst über das Outfit aus Luftballons neben dir.

Aber es gibt eben auch die anderen Abende. Die, an denen etwas reißt – und plötzlich hält jemand sein Handy drauf. Die, an denen dich eine fremde Hand berührt, dort, wo normalerweise Stoff ist. Die, an denen du „nur kurz mit ihm rübergehst“, weil er nett ist, und du nicht weißt, wie du wieder rauskommst.

Es sind oft nicht die großen Übergriffe, sondern die kleinen, die sich festsetzen:
Jemand filmt dich, wie du versuchst, dein verrutschtes Outfit zu retten.
Jemand macht einen Spruch, der sich anfühlt wie ein Stich unter die Haut.
Oder jemand fragt dich, ob du dir das Kostüm ausgesucht hast, um gesehen zu werden.

„Ich hatte Frischhaltefolie um Brust und Hüfte“, erzählt Emily, Jahrgang 2020. „War meine Idee, mein Ding. Aber als ich auf der Tanzfläche stand, hatte ich plötzlich drei Handys auf mich gerichtet. Ich hab’s erst später auf Insta gesehen. Ohne Kontext, ohne mein Einverständnis.“

Die Wahrheit ist: Diese Partys haben eine Spannung in sich, die nicht alle aushalten – schon gar nicht, wenn du 18 bist, neu an der Uni, zwei Drinks über dem Limit und zum ersten Mal in einem Raum, in dem du auf eine Weise begehrt wirst, die dir nicht vertraut ist.


Wenn man plötzlich Teil eines Spiels ist, das andere besser kennen

Niemand bereitet dich auf den Moment vor, in dem dir jemand sagt: „Du bist heiß.“ Und du nicht weißt, ob das ein Kompliment ist – oder der Auftakt zu etwas, das du nicht willst.
Niemand erklärt dir, dass es Jungs gibt, die gezielt auf die Unerfahrenen warten.
Oder dass dein improvisiertes Outfit nur hält, solange du dich sicher fühlst – und nicht, wenn dir plötzlich alles zu viel wird.

“Ich bin mit ihm nach oben gegangen, weil ich dachte, wir reden noch ein bisschen. Dann saß ich plötzlich halbnackt auf seinem Bett und wusste nicht, wie ich da reingeschlittert war.”
Zoe, heute 24

Und nein – es geht nicht um Schuld. Es geht um Situationen, die schnell kippen können. Um den Druck, cool zu bleiben. Um den Moment, in dem du denkst: “Jetzt ist es auch egal.”
Und hinterher weißt du nicht, ob du das wirklich so wolltest – oder ob du einfach nur nicht wusstest, wie du stoppen sollst, ohne uncool zu wirken.


Und dann ist da noch die Sache mit der Gruppe

Was oft vergessen wird: Viele ABC-Partys sind keine Einladungen an Einzelpersonen, sondern an ganze Sororities.
„Theta wird auch da sein.“
„Wir brauchen Präsenz, sonst lädt man uns nächstes Mal nicht mehr ein.“
„Es ist wichtig fürs Standing.“

Das bedeutet: Wenn du absagst, sagst du nicht einfach einer Party ab – du ziehst dich aus dem Gruppenbild zurück. Und niemand möchte der Grund sein, warum man als Schwesternschaft langweilig, unsozial oder „zu prüde“ gilt.

Gerade für neue Mitglieder – für Pledges, für Erstsemester – ist das ein fast unmöglicher Spagat.

„Ich wollte nicht hin. Aber meine Big meinte, das sei quasi Pflicht. Ich hatte Angst, dass ich sonst keinen Anschluss mehr finde.“
Jules, damals Pledge, heute ausgestiegen

Und ja, manche Schwestern sagen: „Mach, womit du dich wohlfühlst.“ Aber zwischen den Zeilen liegt oft etwas anderes: Dass du bitte wenigstens auftauchst. Dass du bitte wenigstens „nicht negativ auffällst“. Und dass du bitte nicht die eine bist, die eine Szene macht, wenn jemand zu weit geht.

So wird aus einer freiwilligen Party ein kollektives Ritual. Und aus dem kreativen Spaß ein Test, den viele bestehen wollen – selbst wenn sie sich dabei verlieren.

Was ich heute sagen würde

Ich würde heute nicht sagen: „Zieh dich nicht so an.“ Das wäre Bullshit. Du darfst aussehen, wie du willst. Und tanzen, wie du willst. Und flirten. Und glänzen.

Aber ich würde sagen: Du brauchst keine Erlaubnis, dich unwohl zu fühlen. Auch nicht in einem Raum, wo alle anderen so tun, als wäre das hier nur Spaß.

Ich würde sagen: Der Moment, in dem dein Tape-Kleid verrutscht, wird nicht automatisch ein Empowerment-Moment. Manchmal ist es einfach nur ein Schreck. Und manchmal macht jemand ein Foto.

Ich würde sagen: Du bist nicht weniger stark, weil du nicht weißt, wie du „Nein“ sagst, wenn du nichts anhast, woran du dich festhalten kannst.
Und: Du bist nicht prüde, wenn du dich entscheiden willst, zuerst zu wissen, wer dich sieht, bevor du dich zeigst.


Fazit, wenn es eins gibt?

ABC-Partys können elektrisierend sein, aufregend, lustvoll.
Aber sie sind auch Räume, in denen Grenzen aufweichen – nicht nur stofflich.
Und manchmal geht jemand nach Hause und fühlt sich leer. Oder schmutzig. Oder einfach nur erschöpft davon, dass alles gesehen wurde – und niemand gefragt hat, wie es ihr ging.

Wenn du das nächste Mal so eine Einladung bekommst: Mach mit, wenn du willst. Und nur, wenn du willst.
Aber sei dir bewusst: Man kann auch etwas verlieren, das kein Stoff ist. Und manchmal ist das viel schwerer zurückzuholen.

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