Die Backstory deiner Protagonist*innen: Warum du den ganzen Eisberg kennen musst

Unsichtbare Tiefen

Wenn du eine Figur erschaffst, siehst du zunächst nur die Spitze ihres Lebens. Ihr Lächeln, ihr Kleidungsstil, ihr Verhalten im Seminar oder im Bett. Doch wie bei einem Eisberg liegen die entscheidenden Schichten verborgen unter der Oberfläche. Elternhaus, Freundschaften, Schulzeit, erste Liebe, sexuelle Erfahrungen – all das prägt sie, auch wenn du es nicht jedes Mal aufschreibst. Als Autor*in musst du diesen Eisberg in seiner Gänze kennen. Nur so reagieren deine Figuren glaubwürdig.

Wie Backstory den Körper formt

Nimm die Studentin, die im Fitnessstudio immer ein Handtuch über ihren Bauch legt. Für die Lesenden wirkt das wie eine beiläufige Geste. Doch du als Autor*in solltest wissen, dass ihr Bruder sie jahrelang wegen eines kleinen Nabelpiercings verspottet hat. Deshalb zieht sie nun reflexhaft den Stoff über den Bauchnabel, sobald andere hinschauen. Ihr Bauch ist flach, die Haut glatt, der Ring ein winziges Stück Metall. Doch in ihrem Kopf ist dieser Körperteil mit Scham verknüpft. Diese unsichtbare Vorgeschichte verleiht jeder Szene Tiefe.

Sexuelle Vorgeschichten

Auch sexuelle Erlebnisse vor Beginn deiner Handlung gehören zum unsichtbaren Eisberg. Stell dir einen jungen Mann vor, der im Bett zögerlich über die Brustwarzen seiner Freundin streicht. Er berührt die glatte Haut vorsichtig, fast so, als könnte sie zerbrechen. Das wirkt schüchtern – bis du weißt, dass seine erste Partnerin ihm damals lachend erklärte, er solle die Hände weglassen, weil er es nicht könne. Dieses alte Erlebnis formt seine Gegenwart, und genau deshalb sollten wir als Autor*innen die intime Vergangenheit unserer Figuren kennen.

Sinnliche Details ohne Wertung

Wenn du über Körper schreibst, vermeide Urteile. Beschreibe präzise, wie Haut aussieht, wie Lippen sich bewegen, wie Schamhaare am Oberschenkel enden. Keine Figur braucht das Label „schön“ oder „hässlich“. Entscheidend ist, wie sie ihren Körper empfindet und warum. Vielleicht betrachtet eine Protagonistin ihre Schamlippen im Spiegel und bemerkt, dass eine länger ist als die andere. Sie denkt an den Satz ihrer Mutter, der sie einst verunsicherte, und gleichzeitig an den Liebhaber, der sie dort mit warmer Zunge liebkoste. Dieser Kontrast ist Literaturstoff.

Tipps für junge Autor*innen

Erfinde nicht bloß eine Figur, die in deiner Handlung funktioniert. Erfinde ein Leben, das deine Handlung trägt. Frag dich: Was hat sie als Kind erlebt? Wie sprach ihr Vater mit ihr über Körperlichkeit? Wann hat sie zum ersten Mal gespürt, dass sie begehrt wird? All diese Antworten bleiben vielleicht ungeschrieben, aber sie färben jede Geste. Schreibe Szenen, in denen Figuren ihre innere Geschichte in kleinen Bewegungen verraten – das Wegschlagen einer Hand, das hastige Schließen einer Bluse, das selbstbewusste Öffnen eines Reißverschlusses.

Writing Prompt

Schreibe eine Szene, in der deine Protagonistin zum ersten Mal allein nackt vor einem Spiegel steht. Beschreibe, wie sie einzelne Körperteile betrachtet, welche Gedanken auftauchen, welche Erinnerungen in ihr wachgerufen werden – und welche dieser Erinnerungen noch Jahre später in ihr Handeln hineinwirken.

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