Widerwillen meisterhaft beschreiben

Ein Wort, das heute nur noch selten vorkommt, ist “Widerwillen”. Ich bin neulich zufällig darüber gestolpert und dachte, es würde ganz hervorragend zum Genre “ENF” passen. Dinge geschehen “wider”, also gegen den Willen der Protagonistin. Damit muss sie sich emotional auseinandersetzen.

Synonyme

In Stefan Zweigs Novelle “Die Mondscheingasse” findet sich ein anderer inzwischen weitgehend veralteter Ausdruck, der den Widerwillen des Protagonisten spiegelt. Sie spielt in einer französischen Hafenstadt, in der der Protagonist versehentlich gestrandet ist. Bei seiner Erkundungstour landet er in einer Spelunke. Wenig später betritt ein anderer Gast den Laden und fängt gleich an, mit der Wirtin zu streiten.

“Und  mir graute vor der Frau neben mir, die plötzlich aus ihrer Schlaffheit aufgewacht war und so voll Bosheit funkelte, dass ihre Hände zitterten.”

(aus: Stefan Zweig: Die Mondscheingasse)

Gerade im Bereich der Synonyme muss man oft ein wenig Einfühlungsvermögen zeigen, um den Zusammenhang mit dem Widerwillen zu durchschauen. Grauen kann ein Zeichen heftigen Widerwillens sein, wie das Beispiel oben zeigt. Jemand kann einer Sache überdrüssig sein, Abscheu empfinden oder gar Abneigung, kann einer Situation feindselig gegenüberstehen oder schlicht lustlos sein. Manches ist einem ein Gräuel, gegen anderes hegt er eine gewisse Scheu oder sogar heftige Aversion. Gegen manche Menschen hegt man eine Antipathie, manches löst sogar einen Ekel aus, oder zumindest einen Unwillen, eine Unlust. Gegen andere hegt man zumindest Ressentiments, einen geheimen Groll sozusagen.

Mit all diesen Synonymen kann man spielen. Sie alle haben aber den Haken, schon ziemlich direkt das Phänomen zu benennen.

Aber wie fühlt sich Widerwillen an?

In “Schauer der Vorwelt” beobachtet ein Nachbar, wie der britischer Okkultist Alex Crowley eines Nachts Dinge in seine Dachkammer schleppt. Am nächsten Morgen ist das früher offen einsehbare Fenster schwarz.

“Doch zu meiner Bestürzung lag die Kammer in absoluter Dunkelheit. (…) Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken hinunter und das war einmal mehr für mich der Anlass, das grüne Kraut gleich nach dem Aufstehen zu meinem Kaffee zu genießen.”

(aus: Tobias Bachmann: Schauer der Vorwelt)

Nun ist der (eis)kalte Schauer schon fast zum Klischee verkommen, obwohl er gerade in der ENF-Literatur noch häufig auftaucht. Manchmal “rieselt” der Schauer, statt zu laufen, was ich persönlich nicht ganz so abgegriffen finde, obwohl es wahrscheinlich einfach eine ältere Ausdrucksweise ist, da sie sich schon in Texten aus dem 19. Jhd. findet.

Psychische Belastungen, Stress und starke Erschöpfung zählen zu den Ursachen für den Kloß im Hals – und damit zu dem Gefühl, leer schlucken zu müssen:

Matthew schluckte schwer, griff in die Innentasche seines Jacketts und tat, was ihm geheißen war. Er fühlte sich schrecklich ausgeliefert und hilflos, als er das Gerät in die geöffnete Handfläche des Fremden legte und damit sich selbst jeder Chance beraubte, Hilfe zu holen.”

(aus: Ina Linger: Sanguis Lilii – Band I: Schattenjäger)

Ist eine Person innerlich aufgewühlt, wird oft ihr Mund trocken. Befeuchtet sie ihre Lippen, spricht das also für ihre Erregung oder Nervosität. Hier ein Beispiel, in dem dies mit dem eben erwähnten Schlucken zusammenfällt:

 “Laura befeuchtete ihre Lippen und schluckte. “Okay”. Sie wollte einerseits, dass Josephine sich beeilte, den Mund aufmachte und den Strom der Worte entließe, damit sie, Laura, alles rückgängig machen könnte, alles, und nie wieder, so lange sie lebte, dieses Schlafzimmer betreten müsste.”

(aus: Emma Straub: Die Tage der Kirschgärten)

Körpersprache

Durch die Sprache als wichtigstem Kommunikationsmittel sind wir aus der Übung gekommen, nichtsprachliche Signale zu deuten. Dabei wäre es gerade in der Belletristik angebracht, den Leser wieder mehr entdecken zu lassen und ihm nicht jede Emotion haarklein zu analysieren.

Es gibt in der Körpersprache vier Bereiche, auf die es zu achten gilt.

1. Mimik

Die Mimik umfasst alles, was sich im Gesicht abspielt. Als ich bei den Stockfotos nach Illustrationen zum Thema Widerwillen suchte, stieß ich auf unzählige Bilder, in denen die Personen die Augenbrauen hochzogen, die Stirn kräuselten und den Mund verzogen. Mir kommen all diese Bilder überzeichnet vor: Bei den Modellen handelt es sich ja zumeist um Laien, die nie gelernt haben, subtil zu agieren.

Achten wir einmal genauer auf die Lippen, an denen wir den Widerwillen einer Person besonders gut ablesen können. Da ist zum einen die Situation, oft während eines Gesprächs, in dem jemand plötzlich kurz die Lippen spitzt. Die Person denkt nach, ist mit Gegenargumenten beschäftigt. In ihrem Kopf regt sich Widerwillen – entweder gegen die Situation, in der sie steckt, oder gegen das Gehörte in einem Gespräch. Aber noch ist die Entscheidung, zu schweigen, nicht gefallen.

“Schuldgefühle hatten an ihr genagt, weil sie ihren Ärger über Beck an Tim ausgelassen hatte, dem Jungen, der ein ach so großes Interesse an Dämonen zeigte.
Da muss ich jetzt durch.
Sie spitzte die Lippen, stieß hörbar die Luft aus und ging auf ihn zu.”

(aus: Jana Oliver: Aller Anfang ist Hölle: Die Dämonenfängerin)

Beißt sich die Person auf die Lippe, ist sie schon einen Schritt weiter. Sie möchte etwas sagen, traut sich aber nicht, aus welchem Grund auch immer. Der Mund ist dabei ja leicht geöffnet und nur die Zähne versperren ihn und verhindern das Reden.

“‘Ich bin nicht dazu gekommen, dich anzurufen.’ Fast war es, als hätte er ihre Gedanken gelesen. (…)
‘In den ganzen drei Monaten nicht?’ Irene hatte kühl bleiben wollen, distanziert und auf keinen Fall vorwurfsvoll, doch der Satz brach einfach so aus ihr heraus. Sie biss sich auf die Lippen. Das Gespräch fing nicht gut an.”

(aus: Katja Maybach: Die Nacht der Frauen)

Presst jemand die Lippen zusammen, ist der Entschluss, zu schweigen (oder zu lügen), bereits gefallen. Die Wahrheit, nämlich die kontroverse Meinung oder die (gefährliche) Information, wird aus diesem Mund nicht mehr herauskommen.

“Die anderen Schiffer hatten einfach nur zugeschaut, eingeschüchtert von ein paar Kerlen mit finsteren Gesichtern und dieser Mischung aus Angeberei und Dummheit, die sie erzittern ließ. Feiglinge. Wie sie sie dafür hasste. »Wo ist deine Schwester?«, fragte er, leise, fast freundlich. Sie presste ihre Lippen zusammen.
Die Ohrfeige landete hart auf ihrer Wange, ihr Nacken haute zurück.”

(aus: Nora Luttmer: Schwarze Schiffe: Kommissar Ly ermittelt in Hanoi)

2. Gestik

Gestik umfasst alle Ausdrucksformen, bei denen ich die Arme, Hände oder den Kopf benutze. So können das Senken des Kopfes, das abwehrende Vorstrecken der Hände oder das Verschränken der Arme Zeichen für Widerwillen sein.

Eine schöne Geste beschreiben Angela Ackerman und Becca Puglesi in ihrem Emotionen-Thesaurus (s. u.): “der Kopf zieht sich zurück und die Schultern schieben sich nach vorne“. Ich musste diese Geste für mich nachahmen, um das Gefühl dafür zu bekommen. Aber die beiden haben recht.

“Carys errötete. Sie schob ihre Schulter vor und benutzte ihren Fächer. Mit erhobenem Haupt sagte sie: ‘Ich halte mich für eine gute Menschenkennerin.’“

(aus: Hannah Howe: Grace’ Rettung)

3. Proxemik

Zugegeben, ich habe das Wort vorher auch noch nie gehört. Aber es macht Sinn. Es beschreibt “das bedeutungsvolle Gestalten des Raumes in der Kommunikationssituation und insbesondere von Nähe und Distanz zum Kommunikationspartner. Sie bemisst sich einerseits als schiere physikalische Entfernung, andererseits aber auch durch den Winkel, den die Gesprächspartner zueinander einnehmen”. (s. Christian Lehmann, Sprachliche – parasprachliche – nichtsprachliche Kommunikation)

In diese Kategorie fällt das Abwenden während eines Gesprächs:

“Ich muss oft an deine hübsche Tochter denken, Oxana. Vielleicht könnte sie ja auch für mich arbeiten. Ich bin sicher, sie gibt eine prima Hure ab, wenn die Zeit reif ist.« Ich wandte mich ab; mir war schlecht, aber ich gab mir alle Mühe, es nicht zu zeigen. Nie wieder durfte ich die Kontrolle über mich verlieren.”

(aus: Oxana Kalemi: Sie haben mich verkauft)

In John Steinbecks Reisebericht “Die Reise mit Charley” erzählt er unter anderem von den Anfängen der Aufhebung der Rassentrennung in den USA. Die kleine Ruby Nell musste noch mit Polizeischutz zur Schule gebracht werden. Vier Marshalls sicherten den Weg vom Auto zur Schultür, während sich hinter der Absperrung ein wütender Mob Luft machte. Hier zeigt sich ein anderes Phänomen, in dem sich der Widerwille gegen eine bestehende Situation deutlich zeigt, nämlich das zögernde Gehen.

“Ich glaube, in seinem ganzen Leben hatte das kleine Mädchen keine zehn Schritte getan, ohne zu hüpfen, aber jetzt inmitten seinem ersten Hüpfer drückte die Last es nieder, und seine kleinen Runden Füßchen machten gemessene, zögernde Schritte zwischen riesigen Wächtern.”

(aus: John Steinbeck: Meine Reise mit Charley)

4. Haltung

Während die Gestik die Bewegungen von Kopf und Armen beschreibt, ist die Haltung eher ein bewegungsloses Indiz für die innere Verfassung. Auch hier gilt es wieder, auf Kopf, Arme und Beine zu achten. Wie verändert sich die Haltung eines Menschen, der Widerwillen empfindet? Wendet er sich von der Situation ab? Weicht lediglich sein Oberkörper zurück? Vermeidet er den Blickkontakt zu der Person, die den Widerwillen auslöst – oder geht er im Gegenteil in Konfrontation, sucht also den Blick des anderen, mit vorgeschobener Brust und gehobenen Hauptes?

Oft sind es Stressfaktoren und psychischen Belastungen, die zunächst zur Anspannung, bei längerem Bestehen der Situation auch zu anhaltenden Verspannungen und Verkrampfungen im Nacken-, Schulter- und Rückenbereich führen:

“Er starrte in das angespannte Gesicht seines Freundes, und eine eiskalte Faust umkrampfte seine Brust, als er erkannte, dass hier keinem zu scherzen zumute war. William spürte, wie er sich innerlich auflehnte, und wie sein Magen rebellierte. Er war aschfahl im Gesicht, als er das Zimmer verließ.”

(aus: Ingrid Stender: Auf Ewig Gebettet)

Strategien

Während wir uns bisher um körperliche Reaktionen und Körpersprache gekümmert haben, lohnt sich zuletzt auch ein Blick auf die Frage, wie Leute handeln, wenn sie mit einer Situation widerwillig umgehen. Im Grunde gelten auch hier die drei Alternativen, die bei jeder unangenehmen Situation zum Tragen kommen: Aktiv dagegen angehen, sich entziehen oder standhalten.

Eine der häufigsten Reaktionen ist das Hinhalten, weil es die Kampf-oder-Flucht-Entscheidung zunächst zeitlich verlagert und so die Möglichkeit schafft, die Optionen noch einmal zu durchdenken:

“Sie meinte: «Ich brauche Zeit zum Nachdenken.» Und dass das nichts Gutes verheißen konnte, dürfte wohl jedem klar sein. Wenn eine Frau sagt, sie braucht Zeit zum Nachdenken, hat sie lange genug nachgedacht.”

(aus: David Foenkinos: Zurück auf Los)

Die eher unbewusste Variante dieser Reaktion ist die Verzögerung. Wir reagieren, jedoch nur langsam, vielleicht um Zeit zu schinden, vielleicht sogar nur, um ein Zeichen zu setzen oder uns an einen Gedanken zu gewöhnen.

“Corinna reagierte nicht gleich, sie warf noch ihr Haar zurück und bürstete es nach hinten, ließ dann, als hätte sie die Nachricht mit Verzögerung begriffen, langsam die Bürste sinken und murmelte: Das kann doch nicht wahr sein.”

(aus: Siegfried Lenz: Die Auflehnung)

Ein Lesetipp:

Wer sich für die physischen Zeichen emotionaler Zustände interessiert, sollte unbedingt einen Blick in “The Emotion Thesaurus – The Writers Guide To Character Expression” von Angela Ackerman & Becca Puglisi werfen. Ohne ihre Arbeit wäre die obige Zusammenstellung in dieser Form nicht möglich gewesen.

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