Defamiliarisierung im erotischen Schreiben – das Alltägliche neu sehen

Erotik nutzt Vertrautes – Haut, Licht, Atem, Kleidung –, aber sie verliert Wirkung, wenn sie zu vertraut beschrieben wird. Gewöhnlichkeit stumpft ab, sie löscht den Reiz, der im Unbekannten liegt. Defamiliarisierung bedeutet, das Alltägliche so zu schreiben, als sähe man es zum ersten Mal. Der Begriff stammt aus der Literaturtheorie des russischen Formalismus: ostranenie, das „Fremdmachen“ der Dinge. In der erotischen Literatur heißt das, den Blick zu verändern, bis selbst ein Knopf, eine Bewegung oder eine alltägliche Geste wieder etwas Rätselhaftes hat.

Der Blick, der verlangsamt

Erotische Defamiliarisierung beginnt mit Wahrnehmung. Nicht was man sieht, sondern wie man sieht, entscheidet über Intensität. Wenn du eine Szene schreibst, verlangsame den Blick deiner Figur. Lass sie nicht „ihr Kleid hochziehen“, sondern „den Stoff fühlen, wie er gegen ihre Finger Widerstand leistet“. Sprache ist hier Bewegung: sie folgt der Wahrnehmung, nicht der Handlung. In dieser Verlangsamung entsteht Sinnlichkeit, weil das Gewohnte plötzlich fremd wirkt – eine vertraute Haut, die anders reagiert, eine Stimme, die im Dunkeln tiefer klingt als am Tag.

Wenn Routine zum Ritual wird

Alltag ist der Rohstoff der Erotik. Ein gemeinsamer Kaffee am Morgen, das Anziehen, das Haarebinden – lauter Gesten, die wir kaum beachten. In der literarischen Perspektive können sie zu Ritualen werden. Beispiel: Ein Mann beobachtet seine Geliebte beim Zuknöpfen ihres Hemdes. Jeder Knopf ein Atemzug, jede Bewegung eine kleine Entscheidung. Das, was im echten Leben beiläufig wäre, wird im Text zum Mikrokosmos von Kontrolle, Erwartung, Nähe. Durch die genaue Beobachtung wird Routine erotisiert, weil sie Aufmerksamkeit verlangt. Erotische Energie entsteht nicht aus Neuheit, sondern aus Bewusstheit.

Sprache als Entautomatisierung

Defamiliarisierung ist nicht nur Thema, sondern Stilmittel. Erotische Sprache verliert ihre Kraft, wenn sie auf Formeln zurückfällt: „weich“, „heiß“, „verlangend“. Versuch, Klischeewörter zu vermeiden und stattdessen Körperwahrnehmung zu konkretisieren. Eine Schulter kann „nach Sonne riechen“, die Haut „gegen die Luft arbeiten“. Der Trick besteht darin, das Erwartbare in neue Syntax zu bringen. Sätze dürfen stolpern, Pausen haben, atmen. Wenn der Leser kurz innehält, um ein Bild zu verstehen, entsteht ein Moment echter Aufmerksamkeit – und damit Erotik.

Der Körper als Landschaft

Defamiliarisierung verwandelt Körper in Räume, die erkundet werden. Denk an eine Szene, in der eine Frau sich im Spiegel betrachtet. Anstatt den Körper zu benennen, beschreib ihn als Terrain: das Licht, das sich über ihre Hüfte bewegt, die Spannung, die zwischen Hand und Glas entsteht. Oder: Ein Liebhaber legt seine Stirn an die der anderen, und sie spürt, dass ihre Haut nicht einfach Haut ist, sondern Grenze, Membran, Wahrnehmungsorgan. Der Körper wird in solchen Momenten nicht erklärt, sondern entdeckt. Das Erotische entsteht im Staunen.

Schreiben gegen die Gewohnheit

Erotisches Schreiben verlangt, dass du dich selbst irritierst. Vertraute Wörter sind bequem, aber sie führen den Leser auf bekannten Wegen. Wenn du wirklich Defamiliarisierung willst, schreib gegen deine Routine: Ändere Perspektive, Stimme, Blickhöhe. Eine Szene, die sonst von außen erzählt wird, kann aus dem Tastsinn entstehen. Beschreib, was eine Figur nicht versteht – wie sich ein vertrauter Körper plötzlich fremd anfühlt, weil der Kontext sich verändert hat. Das Unerwartete ist der Ort, an dem Wahrnehmung beginnt.

Für dein Schreiben

Wenn du eine erotische Szene planst, stell dir vor, du würdest den Raum, den Körper, die Geste zum ersten Mal sehen. Was irritiert dich? Was zieht dich an? Was verlangsamst du instinktiv? Genau dort, im Moment des Zögerns, liegt die Energie des Textes. Erotische Defamiliarisierung ist kein Stiltrick, sondern ein Bewusstseinszustand: die Weigerung, etwas als selbstverständlich zu nehmen.


📝 Writing Prompt

Wähle eine alltägliche Geste – das Schließen eines Reißverschlusses, das Öffnen einer Flasche, das Hinsetzen auf einen Stuhl – und schreibe sie so, als wäre sie ein fremdes, sinnliches Ereignis. Lass deinen Text sich Zeit, bis jede Bewegung Gewicht bekommt. Halte den Moment an, in dem Wahrnehmung sich verwandelt. Schreib, bis Routine Staunen wird.

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