Catfishing: Täuschung, Verlangen und literarische Spannung in der erotischen Literatur

Der Begriff Catfishing stammt aus dem digitalen Zeitalter: Jemand erfindet eine falsche Identität – meist online –, um andere zu täuschen, zu manipulieren oder emotionale (und manchmal finanzielle) Vorteile zu erlangen. Doch das Phänomen ist keineswegs neu. Schon lange vor Social Media und Dating-Apps nutzten Menschen gefälschte Identitäten, um Macht auszuüben, Sehnsüchte zu wecken oder sich selbst neu zu erfinden. In der Literatur findet sich das Motiv der Identitätstäuschung immer wieder, besonders dort, wo es um Verlangen, Macht und die Abgründe der menschlichen Psyche geht.

Literarische Beispiele für Catfishing

1. „Belle de Jour“ (Joseph Kessel, 1928)

Die Protagonistin Séverine führt ein Doppelleben: Tagsüber ist sie die brave Ehefrau eines Chirurgen, nachts arbeitet sie unter dem Pseudonym „Belle de Jour“ in einem Bordell. Hier täuscht sie nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sich selbst – sie flüchtet in eine Rolle, die ihr erlaubt, verbotene Fantasien auszuleben. Die Täuschung wird zur Befreiung, aber auch zur Falle.

2. „Der talentierte Mr. Ripley“ (Patricia Highsmith, 1955)

Tom Ripley gibt sich als Freund des reichen Dickie Greenleaf aus, um dessen Leben zu infiltrieren – und schließlich zu übernehmen. Highsmith zeigt, wie Identität zur Maske wird, hinter der sich Abgründe verbergen. Ripleys Catfishing ist kein Spiel, sondern ein tödliches Kalkül.

3. „Lolita“ (Vladimir Nabokov, 1955)

Humbert Humbert erfindet eine ganze Welt der Täuschung, um die junge Dolores Haze zu manipulieren. Seine falsche Identität als „stolzer Vater“ und „gebildeter Europäer“ dient dazu, sein verwerfliches Verlangen zu verschleiern.

4. „Die Verführung des Joseph Tusk“ (Lawrence Durrell, 1974)

Hier wird Catfishing zur erotischen Strategie: Eine Frau inszeniert sich als unschuldige Jungfrau, um einen Mann zu verführen – nur um ihn am Ende zu demaskieren und zu erniedrigen.


Catfishing als dramaturgisches Werkzeug: Wie Täuschung Spannung erzeugt

Catfishing ist ein perfektes Werkzeug für Autoren, um Spannung, Ambivalenz und psychologische Tiefe zu erzeugen. Hier sind einige Möglichkeiten, das Motiv dramaturgisch einzusetzen:

1. Der langsame Aufbau der Täuschung

  • Geheimnis und Andeutung: Der Leser ahnt früh, dass etwas nicht stimmt, aber die Wahrheit wird nur schrittweise enthüllt. Beispiel: Eine Figur erhält mysteriöse Nachrichten von einem „Fremden“, der sie perfekt zu kennen scheint.
  • Unzuverlässige Erzähler: Die Perspektive der täuschenden Figur nutzen, um den Leser in die Irre zu führen. Was ist Realität, was Inszenierung?

2. Die Macht der Projektion

  • Catfishing lebt davon, dass Menschen das sehen, was sie sehen wollen. Eine Figur verliebt sich in eine Illusion – und der Leser fragt sich: Warum? Was sagt das über ihre eigenen Sehnsüchte aus?
  • Beispiel: Ein einsamer Protagonist korrespondiert mit einer „perfekten“ Geliebten – doch alle Fotos und Geschichten sind erfunden. Die Spannung entsteht durch die Frage: Wird er es merken? Und was passiert, wenn er es tut?

3. Die Demaskierung als Höhepunkt

  • Der Moment, in dem die Täuschung auffliegt, kann ein dramatischer Wendepunkt sein. Wird die getäuschte Figur wütend? Erleichtert? Oder stürzt sie in eine tiefere Krise?
  • Beispiel: In „Gone Girl“ (Gillian Flynn) inszeniert Amy Dunne ihre eigene Entführung – die Enthüllung ihrer Lügen ist ein Schock, der die ganze Handlung umkrempelt.

4. Catfishing als Metapher

  • Täuschung kann für Selbstbetrug stehen: Eine Figur lügt nicht nur andere an, sondern auch sich selbst.
  • Beispiel: In „American Psycho“ (Bret Easton Ellis) ist Patrick Batemans perfekte Fassade eine Form des Catfishings – er spielt eine Rolle, hinter der sich Leere verbirgt.

5. Erotik und Gefahr

  • Besonders in erotischer Literatur kann Catfishing Verbotenes attraktiv machen. Die Unsicherheit („Wer steckt wirklich hinter dieser Maske?“) steigert die Anziehungskraft.
  • Beispiel: Eine anonyme Chatbekanntschaft entpuppt sich als jemand aus dem realen Umfeld der Figur – mit unerwarteten Konsequenzen.

Catfishing in der erotischen Literatur: Warum es so wirksam ist

In der erotischen Literatur geht es oft um Macht, Kontrolle und die Überschreitung von Grenzen. Catfishing bietet hier einzigartige Möglichkeiten:

1. Die Erotik der Ungewissheit

  • Wer ist der andere wirklich? Die Ungewissheit kann Verlangen verstärken – oder in Paranoia umschlagen.
  • Beispiel: Eine Figur verstrickt sich in ein Online-Spiel mit einem Unbekannten, der ihre tiefsten Fantasien zu kennen scheint. Ist er ein Seelenverwandter – oder ein gefährlicher Stalker?

2. Rollenspiele und Identitätsflucht

  • Catfishing erlaubt es Figuren, verborgene Seiten auszuleben. Eine schüchterne Person wird zur dominanten Verführerin, ein Langweiler zum geheimnisvollen Liebhaber.
  • Beispiel: In „Die Pianistin“ (Elfriede Jelinek) nutzt die Protagonistin anonyme Briefe, um ihre unterdrückten Begierden auszudrücken.

3. Tabubruch und Straflosigkeit

  • Hinter einer falschen Identität können Figuren Dinge tun (oder sagen), die sie im echten Leben nie wagen würden. Das schafft Raum für explizite, transgressive Erotik.
  • Beispiel: Eine verheiratete Frau chattet mit einem Fremden – und entdeckt, dass sie sich nur in der Anonymität wirklich fallen lassen kann.

4. Die dunkle Seite des Verlangens

  • Catfishing kann zeigen, wie Verlangen und Täuschung miteinander verwoben sind. Was passiert, wenn jemand nicht die Person liebt, die er zu lieben glaubt – sondern nur die Projektion?
  • Beispiel: In „Der Vorleser“ (Bernhard Schlink) ist die Beziehung zwischen Hanna und Michael von einer fundamentalen Täuschung geprägt – mit tragischen Folgen.

5. Die Frage nach Authentizität

  • Erotische Literatur stellt oft die Frage: Was ist echt? Catfishing radikalisiert diese Frage. Ist Liebe möglich, wenn sie auf einer Lüge aufgebaut ist?
  • Beispiel: Zwei Figuren verlieben sich online – doch als sie sich treffen, stellt sich heraus, dass beide gelogen haben. Führt das zum Bruch – oder zu einer noch intensiveren Verbindung?

Catfishing ist mehr als nur eine moderne Betrugsmasche – es ist ein uraltes literarisches Motiv, das sich perfekt für erotische Geschichten eignet. Es erlaubt Autoren, mit Identität, Macht und Verlangen zu spielen, Spannung aufzubauen und die Leser zu verführen – genau wie die Figuren in der Geschichte.

Probier es aus:

  • Lass eine Figur eine falsche Identität annehmen – und beobachte, wie sie sich darin verliert.
  • Nutze die Ungewissheit, um den Leser zu fesseln: Wer lügt? Wer wird betrogen? Und wer genießt es vielleicht sogar?
  • Experimentiere mit Perspektiven: Zeige die Täuschung aus Sicht des Opfers, des Täters – oder eines ahnungslosen Dritten.

Denn am Ende geht es beim Catfishing nicht nur um Lügen. Es geht darum, was passiert, wenn wir aufhören, uns selbst zu erkennen.


Was denkst du? Hast du schon einmal eine Geschichte mit Catfishing-Elementen gelesen – oder selbst geschrieben? Teile deine Erfahrungen in den Kommentaren!

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