In der Betrachtung von Archetypen und ihrer Relevanz in der Literatur hat der amerikanische Mythologe Joseph Campbell einen entscheidenden Beitrag geleistet. Campbell entwickelte das Konzept des “Monomythos” oder der “Heldenreise”, das in vielen Kulturen und Erzählungen immer wieder auftaucht. Dabei identifiziert er verschiedene Archetypen, die für den Helden oder die Heldin auf ihrer Reise von entscheidender Bedeutung sind. Einer dieser Archetypen ist der Mentor, eine Figur, die den Helden unterstützt, berät und ihn oft in schwierigen Momenten führt.
Der Mentor bei Josef Campbell
Der Mentor ist in Campbells Modell eine zentrale Figur, die den Helden auf seinem Weg unterstützt. Er steht für Weisheit, Erfahrung und die Möglichkeit, den Helden auf die nächste Stufe seiner Entwicklung zu führen. In vielen Erzählungen tritt der Mentor als älterer, erfahrenerer Mensch auf, der dem Helden hilft, seine Ängste zu überwinden und sein wahres Potenzial zu erkennen. Oft ist er eine Quelle des Trostes und der Inspiration, aber auch eine Figur, die der Held herausfordern muss, um zu wachsen.
In der klassischen Struktur der Heldenreise ist der Mentor oft ein Wegweiser, der den Helden zu wichtigen Erkenntnissen führt und ihm hilft, die Hindernisse zu überwinden, die ihm im Leben begegnen. Er ist dabei nicht nur ein Ratgeber, sondern auch eine Figur, die den Helden emotional und psychologisch beeinflusst.
Der Mentor in der erotischen Literatur
In der erotischen Literatur wird die Figur des Mentors oft verwendet, um die Protagonistin in einer emotionalen und sexuellen Reise zu begleiten. Er tritt meist als erfahrener, selbstbewusster Mann auf, der die Hauptfigur in die Welt der Intimität einführt. Der Mentor in der erotischen Literatur ist nicht nur ein Lehrer, sondern auch ein emotionaler Unterstützer, der der Protagonistin hilft, ihre eigenen Wünsche zu erkennen und zu akzeptieren.
Anaïs Nin – Delta of Venus (Sammlung, 1977)
- Werk und Kontext: Anaïs Nins Delta of Venus ist eine Sammlung erotischer Kurzgeschichten, die verschiedene sexuelle Erfahrungen und Dynamiken erkunden. In mehreren Geschichten gibt es Figuren, die als Mentoren fungieren, indem sie jüngere oder weniger erfahrene Charaktere in die Welt der Sexualität einführen.
- Mentorfigur: In der Geschichte „The Basque and Bijou“ fungiert der ältere, erfahrene Basque als Mentor für die junge Bijou. Er lehrt sie nicht nur sexuelle Techniken, sondern führt sie behutsam in eine Welt der Sinnlichkeit ein, mit einem Fokus auf Lust und gegenseitigem Respekt. Im Gegensatz zu Anne-Marie (Die Geschichte der O), die O autoritär unterwirft, ist Basques Rolle fürsorglicher und zielt darauf ab, Bijou Freude und Selbstbewusstsein in ihrer Sexualität zu vermitteln.
- Warum ein klarer Mentor? Basques Lehren sind einfühlsam, und er fördert Bijous sexuelle Selbstentdeckung, was dem Mentor-Archetypus entspricht, der den Helden stärkt. Seine Rolle ist nicht ausbeuterisch, sondern ermutigend, was ihn deutlicher als Mentor auszeichnet als etwa Mother Midnight (Moll Flanders), die in eine unmoralische Welt führt.
- Vergleich: Im Gegensatz zu Mrs. Cole (Fanny Hill), die Fanny pragmatisch in die Prostitution einführt, ist Basques Beziehung zu Bijou persönlicher und weniger auf gesellschaftlichen Aufstieg fokussiert, was seine Mentor-Rolle klarer macht.
D.H. Lawrence – Lady Chatterley’s Lover (1928)
- Werk und Kontext: In diesem Roman entdeckt Lady Constance Chatterley ihre Sexualität und emotionale Erfüllung durch ihre Beziehung mit dem Wildhüter Oliver Mellors. Der Roman thematisiert sexuelle Befreiung und die Überwindung gesellschaftlicher Konventionen.
- Mentorfigur: Oliver Mellors dient als Mentor für Connie. Er führt sie nicht nur in eine neue Dimension körperlicher Lust ein, sondern auch in eine tiefere emotionale und spirituelle Verbindung zur Natur und ihrer eigenen Sinnlichkeit. Mellors ist geduldig, einfühlsam und vermittelt Connie ein Verständnis von Sexualität als Ausdruck von Lebenskraft, im Gegensatz zu den sterilen Beziehungen ihrer Oberschicht-Welt.
- Warum ein klarer Mentor? Mellors’ Rolle geht über bloße sexuelle Initiation hinaus; er hilft Connie, ihre Identität und Autonomie zu finden, was dem klassischen Mentor-Archetypus entspricht, der den Helden zu Selbstverwirklichung führt. Im Vergleich zu Anne-Marie, die O in die Unterwerfung zwingt, ist Mellors’ Einfluss befreiend und unterstützend, was ihn zu einem klaren Mentor macht.
- Vergleich: Anders als Mrs. Cole oder Mother Midnight (Moll Flanders), die ihre Protagonistinnen in moralisch ambivalente Welten (Prostitution, Kriminalität) führen, ist Mellors’ Mentorship auf Connies persönliche und emotionale Entwicklung ausgerichtet, was die Mentor-Rolle stärker hervorhebt.
Emmanuelle Arsan – Emmanuelle (1959)
- Werk und Kontext: Emmanuelle erzählt die Geschichte der jungen Emmanuelle, die in Bangkok eine Reise der sexuellen Selbstentdeckung unternimmt. Der Roman ist ein Klassiker der erotischen Literatur und betont freie Liebe und sexuelle Exploration.
- Mentorfigur: Mario, ein älterer, weltgewandter Mann, fungiert als Mentor für Emmanuelle. Er führt sie in eine Philosophie der freien Liebe ein, lehrt sie, gesellschaftliche Tabus zu überwinden, und ermutigt sie, ihre Sexualität ohne Schuld oder Scham zu erkunden. Seine Rolle ist die eines weisen Lehrers, der Emmanuelle intellektuell und sinnlich herausfordert.
- Warum ein klarer Mentor? Mario vermittelt Emmanuelle nicht nur praktische sexuelle Erfahrungen, sondern eine Weltanschauung, die ihre Perspektive auf Sexualität und Freiheit prägt. Seine fürsorgliche, intellektuelle Führung und sein Fokus auf Emmanuelles Selbstentfaltung machen ihn zu einer klaren Mentorfigur, im Gegensatz zu Figuren wie Anne-Marie(Die Geschichte der O), die Kontrolle ausüben, oder Mother Midnight (Moll Flanders), deren Lehren kriminell geprägt sind.
- Vergleich: Mario ähnelt Mellors (Lady Chatterley’s Lover) in seiner unterstützenden, befreienden Rolle, ist aber intellektueller und weniger emotional involviert, was seine Mentorship klarer im Sinne eines philosophischen Lehrers macht.
Die Mentorin als Anleitung in Liebesdingen
In der erotischen Literatur fungiert die Mentorin häufig als Schlüsselfigur, die die Protagonistin oder den Protagonisten in die komplexe Welt der Sexualität und Liebe einführt. Figuren wie Susanne in Die Mädchenschule und Lycaenium in Daphnis und Chloe verkörpern diesen Archetypus klar, indem sie Wissen und Selbstbewusstsein vermitteln, um die sinnliche Selbstentfaltung zu fördern.
Anders als die manipulative Marquise de Merteuil in Gefährliche Liebschaften, die Cécile eher ausbeutet, oder die autoritäre Anne-Marie in Die Geschichte der O, die Unterwerfung erzwingt, sind wahre Mentorinnen wie Mrs. Cole (Fanny Hill) oder Mother Midnight (Moll Flanders) unterstützend, wenn auch moralisch ambivalent.
Im Gegensatz zu männlichen Mentoren wie Oliver Mellors (Lady Chatterley’s Lover) oder Mario (Emmanuelle), die oft eine befreiende Rolle einnehmen, bieten weibliche Mentorinnen wie Susanne (Die Mädchenschule) und Lycaenium (Daphnis und Chloe) eine solidarische oder einfühlsame Perspektive, die die Geschlechtervielfalt in der erotischen Wissensvermittlung unterstreicht.
Der Aufbau der Mentorin in der Prosa
Beim Erschaffen einer Mentorin in eurer Prosa solltet ihr eine Figur entwerfen, die Wissen und emotionale Unterstützung bietet, ohne die Protagonist:innen zu dominieren oder auszubeuten. Gebt ihr Tiefe durch glaubwürdige Motive – sei es Fürsorge wie bei Susanne (L’École des filles) oder gemischte Absichten wie bei Lycaenium (Daphnis und Chloe) – und vermeidet rein manipulative Rollen wie die der Marquise de Merteuil (Gefährliche Liebschaften).Letztere nimmt eher die Funktion eines Tricksers ein. (Mehr dazu an anderer Stelle).
Lasst die Mentorin die Handlung vorantreiben, indem sie die Heldin oder den Helden in eine neue Welt einführt, und nutzt Dialoge oder symbolische Handlungen, um ihre Weisheit zu vermitteln. Achtet auf das Geschlechterverhältnis, um stereotype Dynamiken zu vermeiden, und gebt der Mentorin eine Stimme, die die Themen eurer Geschichte – sei es Liebe, Macht oder Selbstentfaltung – authentisch widerspiegelt.
Writing Prompt
Stell dir vor, eine junge Frau besucht zum ersten Mal eine erfahrene Mentorin, um mehr über ihre eigene Sexualität zu erfahren. Die Mentorin erklärt ihr ruhig und mitfühlend, wie sie ihren Körper lieben und schätzen kann, ohne sich dabei schämen zu müssen. Beschreibe die Szene, wobei du sowohl die äußeren als auch die inneren Eindrücke der Protagonistin aufgreifst. Wie fühlt sich die junge Frau, wenn sie zum ersten Mal eine solche Anleitung bekommt? Was ist die Reaktion der Mentorin auf ihre Unsicherheit? Wie entwickelt sich ihre Beziehung im Verlauf der Szene?