In der erotischen Literatur ist Lust selten neutral. Sie ist Motor, Spiegel, Grenzerfahrung. Doch für weibliche Figuren war sie über Jahrhunderte vor allem eines: Fremdbestimmung. Ihre Lust wurde beobachtet, bewertet, gezähmt oder belohnt – aber kaum je erzählt. Der weibliche Körper diente als Resonanzfläche männlichen Begehrens. Selbst dort, wo Frauen begehren durften, war ihre Lust meist Reaktion, nicht Entscheidung. Heute, in der feministischen Erotik, verändert sich dieser Blick: Lust wird zur Handlung, zur Sprache, zur bewussten Wahl. Eine Protagonistin, die Lust empfindet, muss nicht „verführt“ werden – sie kann selbst der Ursprung der Bewegung sein.
Zwischen Kontrolle und Hingabe
Feministische Erotik bedeutet nicht, dass Lust immer kontrolliert oder rational ist. Im Gegenteil: Kontrolle kann Teil der Erzählung sein – aber aus eigenem Willen. Eine Frau kann sich hingeben, sich verlieren, riskieren, solange sie weiß, dass es ihre Entscheidung ist. Macht über Lust heißt nicht, sie zu zügeln, sondern sie zu besitzen, auch im Kontrollverlust.
Beispiel: Eine Figur, die weiß, dass sie sich nach jemandem sehnt, der sie verunsichert. Sie spürt die Gefahr, aber sie bleibt. Nicht aus Naivität, sondern aus Neugier. Dieses Bleiben ist kein Opferakt – es ist eine Form von Mut. Lust wird hier nicht als Schwäche geschrieben, sondern als Fähigkeit zur Erfahrung.
Der Körper als Stimme
In feministischen Erzählungen ist der Körper nicht bloß Objekt, sondern Sprecher. Eine Protagonistin, die über ihre eigene Lust verfügt, beschreibt ihren Körper nicht für andere, sondern aus sich selbst heraus. Ihre Wahrnehmung ist Innenperspektive, kein Spiegel. Das kann ganz schlicht beginnen – etwa mit der Art, wie sie ihren Atem beschreibt, wenn sie erregt ist: nicht „sein Blick machte sie heiß“, sondern „etwas in ihr begann, schneller zu atmen“. Diese Verschiebung von Fremd- zu Eigenperspektive ist keine sprachliche Kleinigkeit, sondern eine politische Geste. Sprache entscheidet darüber, wem Lust gehört.
Die Erziehung zur Fremdwahrnehmung
Viele weibliche Figuren – und viele reale Frauen – wachsen mit einem Blick auf, der nicht ihr eigener ist. Sie wissen, wie sie aussehen, aber nicht, wie sie sich anfühlen. In der Literatur spiegelt sich das in der Art, wie Körper beschrieben werden: glatt, schön, ansprechend – nie von innen. Eine feministische Protagonistin muss diese Erziehung erst verlernen. Wenn sie sich betrachtet, darf sie sich nicht korrigieren, sondern spüren. Sie darf sich widersprechen, sie darf überrascht sein. Das ist kein Kontrollverlust, sondern Befreiung. Erst wenn sie den Blick nach innen richtet, wird ihre Lust autonom.
Lust und Schuld
Die Macht über die eigene Lust endet oft an der Grenze zur Schuld. Noch immer gilt weibliches Begehren als riskant, übergriffig, zu viel. Selbstbewusste Lust wird häufig mit moralischer Sanktion verknüpft – in Geschichten wie im Leben. Feministische Erotik reagiert darauf nicht mit Keuschheit, sondern mit Bewusstsein. Eine Frau darf sich schämen und zugleich begehren; sie darf zweifeln, sich ausliefern, genießen. Wichtig ist nicht, dass sie perfekt souverän bleibt, sondern dass die Erzählung sie nicht dafür bestraft. Der Text muss Raum für Ambivalenz lassen, ohne sie zu pathologisieren. Lust darf widersprüchlich sein – sie ist keine Leistung, sondern Existenzform.
Schreiben als Rückeroberung
Wenn eine Autorin einer Figur ihre Lust zurückgibt, gibt sie ihr mehr als ein sexuelles Moment – sie gibt ihr Autorschaft. Sie lässt sie fühlen, entscheiden, reagieren, widersprechen. Eine Frau, die im Text „Ja“ sagt, muss nicht brav sein. Eine, die „Nein“ sagt, darf trotzdem begehrt bleiben. Es geht nicht darum, Macht auszuüben, sondern Macht zu besitzen. Der Unterschied ist fein, aber zentral. Schreiben über weibliche Lust heißt, das Narrativ von Erlaubnis zu verschieben – weg vom Außen, hin zur Selbstbestimmung. Eine feministische Protagonistin ist keine Projektion, sondern eine Stimme, die gelernt hat, sich selbst zu hören.
Für dein Schreiben
Wenn du eine weibliche Figur erschaffst, frag dich: Wem gehört ihre Lust? Wer beschreibt sie, wer benennt sie, wer entscheidet, was sie darf? Versuche, die Szene von innen heraus zu schreiben. Lass sie die Sprache führen, auch wenn sie sich selbst überrascht. Schreib nicht über ihre Wirkung, sondern über ihr Erleben. Dann entsteht ein Text, in dem Lust nicht länger Spiegel, sondern Quelle ist – eine Form von Macht, die sich weder entschuldigt noch erklärt.
Writing Prompt
Schreibe eine Szene, in der eine Frau ihre Lust nicht entdeckt, sondern beansprucht. Lass sie den Moment bewusst gestalten: die Entscheidung, sich zu berühren, sich zu zeigen, etwas zu fordern. Zeig, wie ihr Körper reagiert – nicht für ein Gegenüber, sondern für sich. Lass sie in einem Moment des Begehrens nicht warten, sondern handeln. Achte darauf, dass der Text ihren Blick trägt, nicht den eines anderen. Schreib, bis Lust sich anfühlt wie Sprache – roh, unzensiert, vollständig ihr.
