Ausgesetzt: Ein Kurzroman über Macht, Demütigung und das dunkle Herz des Greek Life

Sandra Manthers neuer Kurzroman „Ausgesetzt“ wirft den Leser mitten hinein in eine Nacht, die zwölf junge Frauen nie vergessen werden: Nackt, barfuß und nur mit durchsichtigen Nachthemden bekleidet, werden sie in einem abgelegenen Waldstück ausgesetzt – eine „Prüfung“, die über ihre Aufnahme in die angesehene Sorority Gamma Xi Delta entscheiden soll. Die Luft ist schwül, der Boden uneben, und mit jedem Schritt wird klar: Hier geht es nicht um Gemeinschaft. Hier geht es um Macht.

Die Protagonistinnen – darunter die ehrgeizige Madison, die traumatisierte Noor und die verletzliche Layla – irren durch das Unterholz, während die Angst vor dem Ranger, der sie erwischen könnte, ihre ohnehin schon brüchige Fassade weiter zerbröckeln lässt. Als sie sich schließlich hinter einem Busch verstecken, Körper an Körper gepresst, wird die Demütigung zur kollektiven Erfahrung: Die nassen Stoffe kleben an der Haut, die Blicke der Männer (später, in der Dusche) sind bereits vorweggenommen, und die Frage, ob sie diese Nacht überstehen werden, ist nicht nur physisch – sondern seelisch.

Manthers Prosa ist unerbittlich. Sie beschreibt nicht nur die Kälte des Mooses unter den Füßen oder das Kribbeln der Insekten auf der nackten Haut, sondern vor allem das stille Einverständnis, das diese Frauen mit sich selbst brechen, um dazuzugehören. „Ausgesetzt“ ist kein Roman über Sisterhood. Es ist ein Roman über den Preis der Zugehörigkeit.

Greek Life: Wo Tradition auf Trauma trifft

Für deutsche Leser*innen mag das Szenario wie ein Relikt aus einem düsteren College-Film wirken – doch das „Greek System“, die Welt der Fraternities (Studentenverbindungen) und Sororities (Schwesternschaften) an US-amerikanischen Universitäten, ist Realität. Über 9 Millionen Studierende sind in den USA Mitglied in einer dieser Organisationen, die nicht nur Partys und Netzwerke, sondern auch hierarchische Rituale und oft genug Hazing – systematische Demütigungen von Neulingen – mit sich bringen.

Die Aufnahme neuer Mitglieder, der sogenannten „Pledges“, folgt einem strengen, oft monatelangen Auswahlverfahren: Bewerberinnen müssen sich bei „Rush Events“ präsentieren, werden zu Gesprächen eingeladen und schließlich – wenn sie Glück haben – „gebiddered“, also offiziell zur Aufnahme vorgeschlagen. Doch der wahre Test beginnt danach: Die „Pledge-Periode“, in der die Neulinge ihre Loyalität unter Beweis stellen müssen. Das kann harmlos beginnen – mit kleinen Aufgaben wie Kaffee holen oder die Wohnheime der älteren Schwestern putzen. Doch bei vielen Sororities (und vor allem Fraternities) eskaliert es schnell: Hazing.

Hazing: Die dunkle Seite der Tradition

„Ausgesetzt“ ist kein Einzelfall. Tatsächlich ist das Aussetzen von Pledges in abgelegenen Gebieten ein dokumentiertes Hazing-Ritual, das immer wieder auftaucht – etwa 2018 an der University of Alabama, wo Pledges einer Sorority stundenlang in einem Waldstück zurückgelassen wurden, oder 2021 an der Pennsylvania State University, wo Neulinge bei Minusgraden im Freien ausharren mussten.

Doch was ist Hazing überhaupt? Der Begriff umfasst jede Form der Demütigung, körperlichen oder psychischen Misshandlung, die Neulingen auferlegt wird, um ihre „Würdigkeit“ für die Gruppe zu beweisen. Dazu gehören:

  • Körperliche Strapazen (stundenlanges Stehen, Schlafentzug, Zwang zu extremem Sport)
  • Psychische Erniedrigung (Beleidigungen, Zwang zu demütigenden Handlungen)
  • Sexuelle Übergriffe (Nacktheit, erzwungene intime Handlungen – wie in „Ausgesetzt“)
  • Gefährliche Mutproben (Alkoholexzesse, riskante Aufgaben)

Offiziell ist Hazing in 44 der 50 US-Bundesstaaten verboten. Doch die Realität sieht anders aus: Die Rituale finden im Verborgenen statt, und die Opfer schweigen – aus Angst, aus Scham, oder weil sie glauben, es gehöre einfach dazu.

Trauma statt Tradition: Warum Hazing mehr als nur „ein bisschen Spaß“ ist

Für nichts ahnende Studierende kann Hazing zu einem traumatischen Erlebnis werden – mit Langzeitfolgen. Studien zeigen, dass Opfer von Hazing später häufiger unter Angststörungen, Depressionen und PTBS leiden. Viele brechen das Ritual ab – und damit oft auch ihre soziale Anbindung an die Uni. Andere, wie die Protagonistinnen in „Ausgesetzt“, gehen weiter, weil der Preis des Aufhörens noch höher scheint als der der Unterwerfung.

Besonders perfide: Hazing wird oft als „Charaktertest“ verkauft. „Wer das aushält, gehört dazu“ – so die Logik. Doch in Wahrheit geht es selten um Stärke. Es geht um Kontrolle. Um die Macht der Älteren über die Jüngeren. Um die perverse Freude, andere brechen zu sehen.

Cover des Kurzromans "Ausgesetzt"

Sandra Manthers Roman stellt genau diese Mechanismen schonungslos bloß. Wenn ihre Protagonistinnen im Wald zittern, wenn sie sich später in der Dusche den Blicken der Fraternity-Brothers ausgesetzt fühlen, dann geht es nicht um „Initiation“. Es geht um Gewalt. Und um die Frage: Wie viel von sich selbst ist man bereit aufzugeben, um nicht allein zu sein?

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