Die Heldenreise nach Joseph Campbell kennt die zentrale Figur des Mentors – jene weise Gestalt, die dem Protagonisten auf seinem Weg zur Transformation beisteht. In der erotischen Literatur ist dieser Archetyp jedoch auffallend ungleich verteilt: Während männliche Mentoren häufig auftreten, sind weibliche Mentorinnen eine seltene Erscheinung. Diese Asymmetrie wirft fundamentale Fragen über Geschlechterollen, Machtstrukturen und die narrative Funktion von Wissensvermittlung in der Erotik auf.
Männliche vs. weibliche Mentoren: Die technischen Unterschiede
Der klassische männliche Mentor in der erotischen Literatur – von Fanny Hills Mr. H. bis zu den Lehrmeistern in de Sades Werken – verkörpert typischerweise eine patriarchale Wissensordnung. Er initiiert, führt und kontrolliert den Lernprozess. Seine Autorität speist sich aus gesellschaftlicher Position, Erfahrung und oft auch aus physischer Dominanz. Die Wissensvermittlung erfolgt hierarchisch: von oben nach unten, vom Erfahrenen zur Unerfahrenen.
Weibliche Mentorinnen hingegen operieren in einem komplexeren Spannungsfeld. Da ihnen in historischen Kontexten oft die gesellschaftliche Autorität fehlt, die ihre männlichen Pendants selbstverständlich besitzen, müssen sie ihre Mentorschaft anders legitimieren. Sie navigieren zwischen den Polen der Komplizenschaft und der Subversion, zwischen der Perpetuierung bestehender Machtstrukturen und deren heimlicher Unterwanderung.
Drei Gesichter weiblicher Mentorschaft
Susanne aus “Die Schule der Frauen” (1655): Die pragmatische Lehrerin
Susanne verkörpert die vielleicht direkteste Form weiblicher Mentorschaft in der erotischen Literatur. Als erfahrene Frau unterweist sie die naive Fanchon in den Künsten der Liebe – nicht aus idealistischen Motiven, sondern aus pragmatischer Notwendigkeit. Susanne ist weder Verführerin noch Opfer, sondern eine Frau, die das System kennt und navigiert.
Ihre Lehrmethoden sind bemerkenswert sachlich: Sie erklärt anatomische Details, demonstriert Techniken und bereitet Fanchon auf die Realitäten des sexuellen Lebens vor. Dabei bleibt sie stets in der Rolle der älteren Schwester oder mütterlichen Freundin. Susannes Mentorschaft ist geprägt von weiblicher Solidarität – sie will Fanchon die Fehler ersparen, die sie selbst gemacht hat.
Lycaenium aus “Daphnis und Chloe”: Die initiierende Göttin
Longos’ Lycaenium ist eine andere Art von Mentorin. Als erfahrene Frau aus der Stadt initiiert sie den unschuldigen Daphnis in die Mysterien der körperlichen Liebe. Ihre Rolle ist die einer Priesterin, die ein heiliges Wissen übermittelt. Im Gegensatz zu Susanne ist Lycaenium nicht pragmatisch, sondern fast mystisch in ihrer Funktion.
Sie nimmt die aktive Rolle ein, führt und unterweist – eine bemerkenswerte Umkehrung der typischen Geschlechterrollen. Lycaenium ist weder Konkurrentin noch Bedrohung für Chloe, sondern eine notwendige Zwischenstation auf Daphnis’ Weg zur reifen Liebe. Ihre Mentorschaft ist zeitlich begrenzt und zielgerichtet: Sie verschwindet, sobald ihre Aufgabe erfüllt ist.
Marquise de Merteuil aus “Gefährliche Liebschaften”: Die ambivalente Strategin
Merteuil ist die komplexeste der drei vorgestellten Mentorinnen. In ihren Briefen an Cécile und durch ihre Manipulation von Danceny vermittelt sie nicht nur sexuelles Wissen, sondern vor allem strategisches. Sie lehrt, wie man Macht durch Verführung erlangt, wie man die Schwächen anderer ausnutzt und wie man in einer patriarchalen Gesellschaft als Frau überlebt.
Ihre Mentorschaft ist jedoch zutiefst ambivalent. Merteuil handelt nicht aus Altruismus, sondern verfolgt ihre eigenen Ziele. Sie formt Cécile nach ihrem Bild, nicht um deren Wohl zu fördern, sondern um sie als Werkzeug zu nutzen. Diese dunkle Seite der Mentorschaft zeigt die Gefahren auf, wenn Wissensvermittlung zur Manipulation wird.
Die Funktion im narrativen Gefüge
Diese drei Mentorinnen erfüllen jeweils unterschiedliche narrative Funktionen:
Susanne dient der realistischen Darstellung weiblicher Lebenserfahrung. Sie repräsentiert die Tradition der Frauengemeinschaft, in der Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ihre Präsenz legitimiert die sexuelle Aufklärung als notwendigen Teil der weiblichen Bildung.
Lycaenium erfüllt eine mythologische Funktion. Sie ist die Verkörperung der Göttin Aphrodite in menschlicher Gestalt, die den männlichen Helden für seine Bestimmung vorbereitet. Ihre kurze, aber intensive Präsenz markiert den Übergang von der Unschuld zur Erfahrung.
Merteuil fungiert als negative Mentorin oder Anti-Mentorin. Sie zeigt die Schattenseiten weiblicher Macht auf und warnt vor den Gefahren einer rein strategischen Herangehensweise an Liebe und Sexualität. Ihre Präsenz macht das Werk zu einer Gesellschaftskritik.
Das Problem der falschen Mentorinnen
Nicht jede ältere, erfahrene Frau in der erotischen Literatur ist eine echte Mentorin. Anne-Marie aus der “Geschichte der O” ist ein perfektes Beispiel für eine Pseudo-Mentorin. Oberflächlich scheint sie O zu unterweisen und zu führen, tatsächlich aber dient sie ausschließlich den Interessen der männlichen Protagonisten. Sie ist ein Werkzeug des Systems, nicht dessen Kritikerin oder Reformerin.
Diese falschen Mentorinnen sind oft schwerer zu identifizieren, da sie die äußeren Merkmale der Mentorschaft aufweisen: Sie sind älter, erfahrener und geben Ratschläge. Jedoch fehlt ihnen das entscheidende Merkmal echter Mentorschaft: die Sorge um das Wohl der Schülerin.
Praktische Implikationen für zeitgenössische Autoren
1. Die Mentorin als Spiegelfigur
Junge Autorinnen und Autoren können die weibliche Mentorin nutzen, um die Entwicklung ihrer Protagonistin zu spiegeln und zu kontrastieren. Die Mentorin zeigt nicht nur, was die Protagonistin werden könnte, sondern auch, was sie nicht werden will. Diese Dualität schafft narrative Spannung und charakterliche Tiefe.
2. Subversion traditioneller Machtverhältnisse
Die weibliche Mentorin bietet die Möglichkeit, traditionelle Machtverhältnisse zu hinterfragen. Anstatt dass eine naive Frau von einem erfahrenen Mann “geführt” wird, kann die Mentorin weibliche Selbstbestimmung und Fachwissen in den Vordergrund stellen. Dies ist besonders relevant in zeitgenössischer erotischer Literatur, die sich von patriarchalen Narrativen lösen möchte.
3. Komplexe Motivationen entwickeln
Die drei analysierten Beispiele zeigen, dass die besten Mentorinnen komplexe, manchmal widersprüchliche Motivationen haben. Susanne ist pragmatisch, aber liebevoll. Lycaenium ist selbstlos, aber geheimnisvoll. Merteuil ist brillant, aber manipulativ. Diese Vielschichtigkeit macht sie zu faszinierenden Charakteren.
4. Der Generationenkonflikt als Motor
Die Beziehung zwischen Mentorin und Schülerin kann den Generationenkonflikt produktiv nutzen. Die ältere Frau repräsentiert eine vergangene Art, mit Sexualität und Macht umzugehen, während die jüngere neue Wege sucht. Dieser Konflikt kann sowohl komisch als auch tragisch inszeniert werden.
5. Authentische weibliche Perspektiven
Zeitgenössische Autoren haben die Chance, authentische weibliche Perspektiven auf Sexualität und Macht zu entwickeln, die über die historischen Beispiele hinausgehen. Dies bedeutet, Mentorinnen zu schaffen, die nicht nur reagieren oder sich anpassen, sondern aktiv ihre eigene Sexualität definieren und leben.
Fazit: Die Mentorin als unterschätzte Kraft
Die weibliche Mentorin in der erotischen Literatur ist mehr als nur eine seltene Erscheinung – sie ist ein ungenutztes Potenzial für komplexe, vielschichtige Erzählungen. Während männliche Mentoren oft eindimensionale Autoritätsfiguren bleiben, müssen weibliche Mentorinnen kreativer, subtiler und strategischer agieren. Diese Notwendigkeit macht sie zu faszinierenderen Charakteren.
Für zeitgenössische Autoren bietet die Mentorin die Möglichkeit, überkommene Narrative zu durchbrechen und neue Formen weiblicher Agency zu erkunden. Sie kann gleichzeitig Lehrerin und Lernende sein, Komplizin und Kritikerin, Beschützerin und Herausfordererin.
Die Kunst liegt darin, die Mentorin weder zu idealisieren noch zu dämonisieren, sondern sie als komplexe menschliche Figur zu gestalten, deren Weisheit und Schwächen gleichermaßen zur Entwicklung der Geschichte beitragen. In einer Zeit, da die erotische Literatur neue Wege sucht, könnte die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der weiblichen Mentorin ein Schlüssel zu authentischeren, nuancierteren Erzählungen sein.