Sich in der Öffentlichkeit nackt zu zeigen, klingt wilder, als es in Wirklichkeit ist. In Deutschland liegen die Anfänge der sogenannten Freikörperkultur bereits am Ende des 19. Jahrhunderts. Schon damals haftete der Nacktheit ein Hauch von Rebellion an. Das Kaiserreich war eine äußerst prüde, reaktionäre Zeit, in der der Körper tugendsam geschützt zu sein hatte. Die Kleider waren hochgeschlossen und knöchellang. Es war die Zeit der Korsetts, in denen die Frauen auf ein Idealmaß zurecht geschnürt wurden.
Dass dies nicht gesund sein konnte, begriff zuerst der Schweizer Naturheiler Arnold Rikli. Er gründete 1854 eine Sonnenheilanstalt, in der seine Patienten nackt sonnenbaden konnten. Den gesundheitsfördernden Aspekt würden wir heute wahrscheinlich – neben der frischen Luft – vor allem dem Aufbau von Vitamin D zuschreiben. Denn dieses Vitamin D wird unter dem Einfluss von UV B-Sonnenstrahlen über die Haut gebildet. Und ein Mangel an Vitamin D führt zu diversen Krankheiten – von Haarausfall bis Depression. Damals jedoch war all dies noch nicht erforscht und Rikli sprach eher empirisch von der „reinigende Wirkung des Lichtluftbades“.
Fakt ist, dass bis 1912 380 dieser „Licht- und Luftbäder“ aus dem Boden schossen, oft an Badeseen oder in abgelegenen Gärten. Von da aus eroberte die Nacktkultur das offene Land. Es war eine „Propaganda der Tat“, wie der Münchner Theologe Franz Walter 1910 bereits misliebig beschrieb: „Eine Bewegung geht durch die modernen Großstädte, welche offen eine Propaganda großen Stils für die Einführung der unverhüllten Nacktheit in das gesellige Leben betreibt mit Hilfe einer Agitation, einer Literatur und Presse, welche in Wort und Bild die Nacktheit verherrlicht.“
Interessant ist die Begründung, die neben den gesundheitlichen Aspekten immer mehr in den Vordergrund rückte: „Wir wollen es nicht leugnen: Ein nackender Mensch ist für die Menschen unserer Zeit eine Geschmacklosigkeit und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht – so unnatürlich sind wir geworden“, schrieb bereits 1893 der Publizist Heinrich Pudor. Und über den Begriff der Natürlichkeit fand die öffentliche Nacktheit eines ihrer stärksten Argumente.
Natürlich war dies nicht zuletzt eine Moraldebatte. Und während die katholischen Sittlichkeitsvereine einen Prozess nach dem anderen anstrengten, um gegen die öffentliche Nacktheit vorzugehen, argumentierten die Befürworter: „Dass man sich einen nackten Körper ohne ausgesprochenen erotischen Zweck nicht vorstellen kann, ist der notwendige Ausdruck seiner eigenen moralischen Minderwertigkeit.“ Mit anderen Worten: Letztlich sind es Kirche und konservative Medien, die einen an sich natürlichen Zustand sexualisieren, indem sie Nacktheit als unmoralisch brandmarken.
Die Freikörperkultur zeigt, dass es auch anders geht. Die FKK-Strände, die es immer noch an vielen Stellen gibt, sind ein Beleg dafür. Zumal an vielen Stränden mittlerweile Nackte selbstverständlich neben Strandbesuchern mit Badekleidung liegen, ohne dass sich jemand daran stören würde – auch jenseits der eigens dafür ausgewiesenen Zonen.