„Die elftausend Ruten“ von Guillaume Apollinaire (1907)

Guillaume Apollinaires Les Onze Mille Verges ou les Amours d’un Hospodar gilt als eines der provokantesten, zugleich sprachlich spielerischsten erotischen Werke der französischen Literatur. Der Roman ist kurz, aber extrem dicht, voller grotesker, komischer, sadistischer und surrealer Episoden – ein typisches Beispiel für Apollinaires anarchisches Verhältnis zu Erotik, Humor und Avantgarde.

Inhalt und Struktur

Der Roman folgt Mony Vibescu, einem jungen rumänischen Prinzen (ein Hospodar), der durch Europa reist und eine Reihe von sexuellen Abenteuern erlebt, die immer exzessiver, absurder und drastischer werden. Begleitet wird er von der serbischen Gräfin Matoška und später von verschiedenen Geliebten, Dienerinnen, Prostituierten, Adligen und Zufallsbekanntschaften.

Der Text ist eine Art episodischer picaresker Pornographie:

  • Mony und seine Gefährtinnen treiben es in Hotelzimmern, Eisenbahnwaggons, Clubs, Palästen und öffentlichen Räumen.
  • Es geht um nahezu jede denkbare sexuelle Praxis, teils übersteigert bis zur Groteske.
  • Viele Szenen haben eine karikierende, antiklerikale oder bewusst skandalöse Note.
  • Gewalt und Erotik vermischen sich literarisch, aber auf eine Weise, die weniger realistisch als bewusst überzeichnet wirkt – fast wie eine surrealistische Vorstudie.

Apollinaire, der später Begriffe wie Surrealismus mitprägte, nutzt die Extreme, um Heuchelei, Moral und Macht durch Satire zu demontieren.

Warum ist das Werk berühmt – oder berüchtigt?

  1. Grenzüberschreitung als ästhetisches Programm
    Apollinaire bricht bewusst mit den Grenzen dessen, was 1907 publizierbar war. Fast alles an dem Buch ist eine Provokation – Erotik, Humor, Blasphemie und literarische Experimentierfreude.
  2. Poetischer Stil trotz drastischer Inhalte
    Trotz seiner derben Szenen arbeitet Apollinaire mit Rhythmus, Bildkraft und Ironie. Sprache und Struktur sind überraschend kunstvoll.
  3. Einfluss auf die Avantgarde
    Das Buch wurde von Surrealisten wie Breton, Aragon, Bataille und später auch von Genet geschätzt. Sie sahen darin ein frühes Beispiel für Literatur, die die Triebe nicht moralisiert, sondern als kreative Energie versteht.
  4. Libertinage als Gesellschaftskritik
    Die sexuellen Exzesse sind weniger Selbstzweck als Angriff auf Heuchelei, Machtmissbrauch und die bürgerliche Moral Europas um 1900.

Zur deutschen Übersetzung

Der deutsche Titel lautet:

„Die elftausend Ruten“

Dies ist heute die geläufige Übersetzung; sie beruht auf einer phonetischen Doppeldeutigkeit:

  • verges (frz.) = Ruten, Peitschen
  • Anspielung auf Onze Mille Vierges = die „Elftausend Jungfrauen“ rund um die legendäre Heilige Ursula

Apollinaire parodiert damit bewusst religiöse Märtyrerlegenden.

Es existieren mehrere deutsche Ausgaben seit den 1960ern, meist in Kleinverlagen oder in erotischen Reihen, oft mit leicht variierten Untertiteln.

Entstehungsgeschichte

  • Apollinaire schrieb den Text 1907, vermutlich schnell und teilweise zur Unterhaltung einer kleinen künstlerischen Clique.
  • Das Werk war nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht.
  • Aufgrund seiner Obszönität kursierte es jahrzehntelang nur unter der Hand.
  • Erst nach Apollinaires Tod (1918) und nach Lockerungen der Zensur wurde es regulär gedruckt.
  • In den 1960ern, im Zuge der sexuellen Revolution, erlebte der Roman eine größere Rezeption und wurde literarisch ernster genommen.

Wirkung

Frühe Rezeption:
Skandal, Verbot, Zensur – und zugleich Faszination im avantgardistischen Milieu.

Spätere Rezeption:

  • Anerkennung als frühes Meisterwerk experimenteller Erotik
  • Einfluss auf Surrealisten und Situationisten
  • Popkulturelle Bezüge, z. B. in der französischen Underground-Szene

Heute:
Das Buch ist weniger wegen seiner expliziten Szenen relevant, sondern wegen seines literarischen Gestus:
eine Mischung aus Satire, Groteske, Poesie und Libertinage, die ihrer Zeit weit voraus war.

Lohnt sich die Lektüre heute noch?

Ja – aber nicht als klassische erotische Erzählung.

Es lohnt sich für Leser*innen, die:

  • Spaß an extremen literarischen Grenzgängen haben,
  • historische Avantgardeliteratur schätzen,
  • Surrealismus und groteske Erotik mögen,
  • Interesse daran haben, wie um 1900 Sexualität als literarische Waffe gegen Moral und Autorität eingesetzt wurde.

Wer jedoch eine psychologisch subtile, realistischer gehaltene Erotik erwartet (à la Duras oder Réage), wird eher irritiert.

Was können heutige Autor*innen erotischer Literatur von Apollinaire lernen?

Mut zur Überzeichnung
Erotische Szenen dürfen grotesk, komisch oder surreal sein – Erotik muss nicht immer realistisch sein, um zu wirken.

Erotik als Gesellschaftskritik
Sexualität kann ein Mittel sein, Machtstrukturen zu entlarven. Apollinaire zeigt: Erotik ist politisch.

Sprache als Spielplatz
Selbst drastische Inhalte wirken literarisch, wenn sie sprachlich kunstvoll gestaltet sind.

Humor und Erotisierung des Absurden
Humor ist ein unterschätztes Werkzeug erotischer Literatur. Apollinaire nutzt es meisterhaft, um Tabus zu unterlaufen.

Transgression als ästhetische Strategie
Das Überschreiten von Grenzen erzeugt Spannung, Reibung und Erkenntnis – aber nur, wenn es bewusst und reflektiert geschieht.

Apollinaire nutzt sprachliche Virtuosität und surrealen Einfallsreichtum, um die Grenzen des Darstellbaren bewusst zu sprengen – ein ästhetisches Programm, das später für Surrealisten stilbildend wird. Trotz seiner Obszönität handelt es sich nicht um triviale Erotik, sondern um ein experimentelles, anarchisches Werk, das Sexualität als literarisches Instrument der Entzauberung begreift. Seine Wirkungsgeschichte verläuft über Jahrzehnte von Zensur und Geheimzirkulation hin zur späteren Anerkennung als avantgardistischer Klassiker. Für heutige Autor*innen erotischer Literatur bleibt es ein Beispiel dafür, wie Mut zur Überzeichnung, Ironie und Grenzverletzung die Erotik literarisch fruchtbar machen können – jenseits realistischer Darstellung und konventioneller Lustlogiken.

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