Selbstbild und Fremdbild – Wie Figuren ihre eigene Attraktivität wahrnehmen

Niemand sieht sich, wie er wirklich ist. Jede Wahrnehmung des eigenen Körpers ist gefiltert – durch Erinnerungen, durch Kommentare, durch Vergleiche. In der erotischen Literatur ist das besonders spürbar: Figuren erleben ihren Körper nie neutral. Selbst wenn sie allein sind, tragen sie den Blick der anderen in sich. Eine Figur, die sich für schön hält, hat dieses Urteil gelernt – durch Reaktionen, durch Spiegel, durch Anerkennung. Eine Figur, die sich unattraktiv fühlt, hat sich selten selbst gesehen; sie hat sich gehört – das Lachen anderer, das Schweigen, das Abwenden. So wird der Körper zum psychologischen Resonanzraum zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Der Spiegel als Bühne

Eine Frau steht nackt vor dem Spiegel. In der Realität wäre das ein kurzer Moment, doch im Text kann er sich dehnen, zu einer kleinen Studie der Selbstwahrnehmung werden. Was sieht sie? Und was glaubt sie zu sehen? Ihre Schultern, die sie zu breit findet, die kleinen Unebenheiten der Haut, die sie als Makel empfindet – bis jemand den Raum betritt und dieselbe Stelle plötzlich anders erscheint. In seinem Blick wirkt die Haut glatt, warm, lebendig. Die Realität ihres Körpers hat sich nicht verändert, nur das Licht des Blicks. Der Körper ist nie nur das, was er ist, sondern auch das, was er bedeutet.

Attraktivität als Beziehung

Attraktivität ist kein Zustand, sondern ein Dialog. Sie entsteht im Zwischenraum – dort, wo ein Blick erwidert wird. Eine Figur, die sich begehrt fühlt, nimmt ihren Körper anders wahr, weil er wirkt; eine Figur, die ignoriert wird, spürt dieselbe Haut als Last. Das Selbstbild wächst aus Beziehungserfahrung, aus Resonanz. Der Blick der anderen wird verinnerlicht, als wäre er eine zweite Haut. Besonders weibliche Figuren tragen diesen Blick mit sich herum – selbst in der Einsamkeit. Er prägt, wie sie sich bewegen, kleiden, sprechen. Feministische Erotik reagiert darauf, indem sie diesen Blick entlarvt und umkehrt: Die Figur beginnt, sich selbst zu betrachten, ohne sich zu korrigieren.

Die Wahrnehmung im Schreiben

Für Autor*innen ist Attraktivität kein optisches Merkmal, sondern ein Spannungsfeld. Sie zeigt sich nicht in der Beschreibung der Figur, sondern in der Art, wie sie sich selbst beschreibt. Ein Mann, der sich begehrenswert fühlt, bewegt sich anders, seine Sprache ist offener, rhythmischer. Eine Frau, die sich unwohl fühlt, zieht sich auch sprachlich zurück; ihre Wahrnehmung wird fragmentarisch, sprunghaft, tastend. So kann das Selbstbild zur Erzähltechnik werden. Anstatt „Sie war schön“ zu schreiben, lass die Figur denken: „Er sah sie an, als wäre sie schöner, als sie war. Und für einen Moment glaubte sie ihm.“ Diese kleine Verschiebung macht aus Beschreibung Psychologie.

Wenn Selbstbild und Fremdbild kollidieren

Die spannendsten erotischen Szenen entstehen dort, wo beide Wahrnehmungen aufeinandertreffen. Sie hält sich für unscheinbar – er sieht sie als faszinierend. Er glaubt, Kontrolle zu haben – sie spürt, dass er sie unterschätzt. Diese Reibung zwischen Selbstbild und Fremdbild erzeugt Spannung, bevor sich jemand berührt. Was Figuren voneinander wollen, hängt davon ab, wie sie sich selbst erleben. Lust entsteht oft genau in dem Moment, in dem jemand erkennt: „So sehe ich mich nicht. Aber so sieht er mich.“ Und diese Erkenntnis kann elektrisierend oder beängstigend wirken – je nachdem, ob die Figur bereit ist, sich in diesem neuen Bild zu erkennen.

Für dein Schreiben

Wenn du eine Figur entwickelst, frag dich: Wie sieht sie sich selbst? Wie würde sie sich beschreiben, wenn niemand sie beobachtet? Und wie verändert sich ihr Körpergefühl, sobald jemand hinsieht? Schreib nicht über Schönheit, sondern über Wahrnehmung. Nicht über Form, sondern über Wirkung. Zeig, wie der Blick der anderen zum inneren Echo wird – manchmal verzerrt, manchmal befreiend. Erotik entsteht nicht aus dem, was sichtbar ist, sondern aus dem, was gespürt wird, wenn jemand hinsieht.

Writing Prompt

Schreibe eine Szene, in der eine Figur sich selbst betrachtet – im Spiegel, im Fenster, im Blick eines anderen. Lass sie erkennen, dass ihr Selbstbild brüchig ist. Vielleicht fühlt sie sich plötzlich schöner, vielleicht fremder. Lass den Leser spüren, wie Wahrnehmung zu Berührung wird.

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