Vom Bikini zum Crop Top: Der Bauchnabel als öffentliches Ereignis

Der Bikini als erste Zäsur: Ein Skandal am Strand, aber kein Wandel im Alltag

Als der Bikini 1946 erstmals in Frankreich gezeigt wurde, war das Auftauchen des weiblichen Bauches in der Öffentlichkeit ein Schock. Die Idee, Haut zwischen Brust und Hüfte nicht nur zu zeigen, sondern bewusst zu präsentieren, widersprach den Kleidungsnormen der Nachkriegszeit.

Und doch passierte die Revolution nicht in den Städten, sondern am Strand.

In den 1950er Jahren wanderte der Bikini in den Mainstream, getragen von Ikonen wie Brigitte Bardot oder Marilyn Monroe. Aber die Sichtbarkeit des Bauches blieb örtlich begrenzt. Sie fand statt, wo Sommer, Wasser und Laissez-faire als Ausnahmezustände galten. Die Alltagswelt blieb bekleidet, kontrolliert, geschlossen.

Der Bauch war sichtbar, aber noch lange nicht öffentlich erotisch.

Niemand sah in den 1950ern einen Bauch und dachte an Lust. Man dachte an Urlaub, Sonne, Filmstars – nicht an Sexualität. Der Bauchnabel war schlicht ein Alltagspunkt auf einer sonst unspektakulären Fläche Haut, ohne kulturelle Bedeutung.

Die 1960er und 1970er: Befreiung ohne Bauch, Nacktheit ohne Andeutung

Die sexuelle Revolution der 1960er und 1970er brachte eine andere Vorstellung von Körperlichkeit hervor. Sie interessierte sich nicht für den Bauch – sondern für das Prinzip einer generellen Entblößung.

Wickelröcke, freie Brüste, gemeinschaftliche Nacktheit in Kommunen, die Idee der naturhaften Sexualität: Der Bauch ging in der Totalsicht unter. Man zeigte alles – oder man zeigte gar nichts.

Teilweise Entblößung war kein Ziel, sondern ein Kompromiss, den man bewusst ablehnte. Erotische Energie lag im Tabubruch und im Körper als Ganzem. In diesem Kontext wurde der Bauchnabel nicht neu entdeckt, sondern übergangen.

Er war zu harmlos, zu beiläufig, zu wenig symbolisch, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Erotik dachte in Kategorien von Ganzkörperfreiheit, nicht in Zonen der Andeutung. Insofern stand die Utopie der 1960er quer zu jenem modischen Spiel, das in den 1990ern entstehen sollte: Erotik durch Kuratierung, nicht durch Radikalität.

Die 1980er: Körper, Leistung, Kontrolle – der Nabel als Nebenprodukt

Die 1980er brachten den Bauch zurück, aber nicht als erotische Oberfläche. Er wurde zum Schauplatz sportlicher Ambition: Aerobic, Fitness, Neonfarben, Lycra.

Sichtbare Muskeln, sichtbare Disziplin – das war der Code.

Der Bauchnabel tauchte in dieser Ästhetik auf, aber nicht als Einladung, sondern als Nebenprodukt einer Leistungslogik.

Man kann sich eine Szene vorstellen, in der jemand vor dem Fernseher Aerobic macht, der Body hochgezogen, die Bauchdecke hart, der Nabel sichtbar – nicht als Versprechen, sondern als Beweis.

Sex spielte in dieser ikonischen Bildsprache eine untergeordnete Rolle.

Der Bauch wurde gezeigt, aber nicht begehrt. Er wurde bewertet, nicht ersehnt.

Popkulturelle Ikonen: Britney Spears, Christina Aguilera, Aaliyah

Die Hypersexualisierung wurde nicht theoretisch beschlossen, sondern ikonisch umgesetzt.

Musikvideos der 1990er – insbesondere von Britney Spears – etablierten ein Bild, in dem der entblößte Bauch als Hauptaussage des weiblichen Popkörpers inszeniert wurde.

Diese Bilder kommunizierten:

  • Jugend
  • sexuelle Energie
  • selbstbewusste, aber domestizierte Rebellion

Britney im Schulmädchen-Look mit knotenverknotetem Top war nicht nur Popästhetik, sondern die Verheißung, dass Sexualität verkauft werden kann, ohne pornografisch zu sein.

Christina Aguilera und Aaliyah trieben das weiter – der Bauch wurde Teil eines ästhetisierten, durchtrainierten, standardisierten Körpers, der gleichzeitig „frei“ und „beherrscht“ erschien.

Das war keine zufällige Mode.

Es war Marktdynamik: Sexualisierung, die man im Supermarktregal verkaufen konnte.

Der Fitnesskörper als Norm – und der Bauchnabel als Messstelle

Hypersexualisierung des Bauchnabels bedeutete nicht nur Sichtbarkeit.

Sie bedeutete Sichtbarkeit unter Bedingungen.

Der Bauch musste:

  • flach sein
  • definiert, aber nicht muskulös
  • haarlos
  • narbenlos

Perfektion wurde zur Voraussetzung für Sichtbarkeit.

Der Bauchnabel fungierte damit als Indikator für Normativität:

Wenn du ihn zeigen konntest, warst du „in Form“.

Wenn nicht, blieb er verdeckt.

So verschob sich Sexualisierung in Richtung Selbstoptimierung – und das Straßenbild transformierte sich.

Das Straßenbild: Von der Ausnahme zur Uniform

Was auf MTV begann, landete auf den Straßen. Nicht nur Clubs, sondern Einkaufszentren, Schulen, Städte. 18-jährige Frauen trugen:

  • Ramp Tops
  • Crop Shirts
  • Low-Rise Jeans

Und sie gaben damit ein Versprechen ab: „Ich erfülle die neuen Regeln des Begehrens.“

Der Bauchnabel wurde öffentlicher Standard, nicht privater Fetisch.

Er war Modepflicht, nicht Individualentscheidung.

Und das erzeugte einen sozialen Druck, der damals kaum reflektiert wurde.

Die Dialektik: Empowerment oder Verfügbarmachung?

Es wäre zu einfach, diesen Moment als reine Ausbeutung zu lesen.

Für viele Frauen bedeutete der entblößte Bauch:

  • Freiheit von Prüderie
  • körperliche Selbstbestimmung
  • kollektive Identität

Er war ein Statement gegen die Moral der 1980er, die weibliche Haut pathologisierte.

Aber gleichzeitig verschob sich das Begehren vom Verlangen nach Sexualität zu einem Verlangen nach Konformität.

Der Körper musste nicht nur sexuell sein – er musste richtig sexuell sein.

Das ist der Kern der Hypersexualisierung:

Nicht, dass Sexualität da war, sondern dass sie kodifiziert wurde.

Ist die Hypersexualisierung vorbei?

Die kurze Antwort: Ja und nein.

Die massive Sichtbarkeit des Bauchnabels im Mainstream verschwand um 2008 mit:

  • High-Rise Jeans
  • Body-Positivity-Narrativen
  • Instagram-„Natürlichkeit“
  • athleisure-Mode

Der Bauch wurde bedeckt, neutralisiert, „erwachsener“.

Aber die Hypersexualisierung verschwand nicht.

Sie zog sich in Kurse, Communities und Nischen zurück, wo der Bauch erneut zum Code wurde.

Literatur: Ein Körperteil ohne Tradition

Während Mode, Pop und Medien den Bauchnabel sexualisierten, reagierte die Literatur erstaunlich zögerlich.

Erotische Texte der 1950er bis 1970er beschäftigten sich intensiv mit Brüsten, Scham, Po, Mund – jenen Körperzonen, die bereits kulturgeschichtlich aufgeladen waren.

Der Bauch hingegen hatte keine literarische Symbolik.

Er stand für nichts.

Weder für Erotik, noch für Intimität, noch für Macht.

Auch in den 1990ern fand er kaum Eingang in narrative Formen, weil seine neue Bedeutung primär visuell verhandelt wurde. Der Bauchnabel war ein Bildphänomen, nicht ein sprachliches.

Die Erotik der Mode funktionierte durch Blick, Pose, Geste – nicht durch Erzählung.

Moderne Erotik: Der Bauch als Moment, nicht als Zentrum

In zeitgenössischer Literatur taucht der Bauchnabel seltener als erotisches Ziel auf, sondern als Zwischenphase, als Übergang.

Da, wo ein Shirt verrutscht, wo Haut kurz sichtbar wird, wo jemand sich bewegt, ohne bereit zu sein.

Ein kurzer Ausschnitt:

Sie hebt die Arme, um ihr Haar zu binden, und der Stoff ihres Shirts gleitet nach oben. Der Bauch liegt frei, weich, der Nabel eingesogen. Sie bemerkt es erst, als sein Blick dorthin wandert, nicht fordernd, sondern neugierig. Und plötzlich weiß sie nicht, ob sie den Stoff hinunterziehen soll oder die Geste zu Ende führen.

Der Bauchnabel wird hier nicht als Objekt begehrt, sondern als Zeichen einer Bewegung, als Ort, an dem Intimität kurz aufblitzt, bevor sie entschieden wird.

Was bedeutet das für uns als Autoren erotischer Literatur?

Der Bauch bietet uns heute einen Raum, den frühere Generationen nicht hatten:

Erotik durch Andeutung statt Vollzug.

Er ist ein Gebiet der Spannung, nicht des Ziels.

Ein Ort, an dem Körperhaltung, Unsicherheit, Offenheit sichtbar werden, bevor etwas passiert.

An ihm lässt sich erzählen:

  • wie nahe zwei Figuren einander kommen
  • wie sicher sich jemand fühlt
  • wie sehr ein Körper in sich ruht – oder sich schützt

Der Bauchnabel ist keine Trophäe.

Er ist eine Schwelle.

Literarisch interessant ist er dort, wo er kurz sichtbar wird, bevor er bedeckt wird – oder trotzdem nicht bedeckt wird.

Denn in diesem Moment verhandelt ein Körper etwas, das Mode nie ausdrücken konnte: nicht Sex, sondern Verletzlichkeit.

Ein Körperteil, das spät kam – und lange bleibt

Der Weg des Bauchflecks vom Strand der 1950er in die Popmode der 1990er war keine lineare Entwicklung, sondern eine Folge widersprüchlicher Körperpolitiken.

Aber erst dort, wo Andeutung wichtiger wurde als Offenbarung, fand er seine Bühne.

Und erst dort, wo Literatur begann, feine sensorische Spannungen zu erkunden, fand er seine Stimme.

Vielleicht ist der Bauchnabel deshalb kein lautes erotisches Motiv.

Vielleicht ist er ein leises, das genau dann am stärksten wirkt, wenn niemand es geplant hat:

ein Stück Haut, das sich zeigt, bevor jemand weiß, ob er gesehen werden will.

Und genau das macht ihn für uns interessant – nicht als Symbol der Begierde, sondern als Ort des Übergangs zwischen Körper und Erzählung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert