Reluctance und NonConsent: Genre zwischen Fantasie und Realität

In kaum einem anderen Genre erotischer Literatur liegen Fantasie und Realität so weit auseinander wie im Bereich Reluctance (Widerstand) und NonConsent (Nicht-Einwilligung). Geschichten, in denen eine Frau (selten ein Mann) zunächst nicht will, sich widersetzt, Angst empfindet – und später vielleicht doch Lust verspürt – können für viele Leser*innen hochgradig erregend sein. Doch sie werfen gleichzeitig schwerwiegende ethische und psychologische Fragen auf.

Als Psychologin ist es mir wichtig, nicht mit moralischer Entrüstung auf diese Texte zu blicken, sondern mit einem differenzierten Blick auf innere Fantasien, Verarbeitungsmechanismen und gesellschaftliche Wirkung. Dieser Beitrag richtet sich an Autor*innen, die solche Szenarien schreiben – und Verantwortung übernehmen wollen.


Psychologische Grundlage: Warum Fantasien von Ohnmacht erregen können

Viele Frauen (und auch manche Männer) haben in sexuellen Fantasien passive oder gar unterwürfige Rollen. Studien belegen, dass sogenannte „forced sex fantasies“ – also Szenarien, in denen ein sexuelles Geschehen gegen den erklärten Willen beginnt – zu den häufigsten weiblichen Fantasien gehören. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den Wunsch, real vergewaltigt zu werden. Sondern vielmehr um die Vorstellung, verantwortungslos lustvoll zu empfangen, ohne entscheiden, ohne zustimmen, ohne aktiv sein zu müssen.

Beispiel:
Anna liegt auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf, festgehalten an den Handgelenken. „Hör auf“, flüstert sie. Ihr Puls rast. Doch in ihrem Kopf tobt etwas anderes: Tu’s. Jetzt. Ich will es. Ich darf es nicht sagen – aber tu’s. Sie windet sich unter ihm, die Worte einstudiert, ihr Nein keine Grenze, sondern eine Fassade, hinter der sich ihr Begehren verbirgt.

Fantasien sind nicht gleich Handlungswünsche. In der Psychologie spricht man hier von der Fantasie als Entlastungsmechanismus: Wer im Alltag stark kontrolliert, autonom und leistungsorientiert lebt, kann sich in der Vorstellung des Kontrollverlusts einen Gegenpol schaffen.

Diese Fantasien dienen oft auch der Verarbeitung früherer Erfahrungen – sie können, wenn reflektiert und freiwillig evoziert, sogar eine Form der Selbstermächtigung sein.


Das Problem: Wenn Literatur zur Vorlage für Grenzüberschreitungen wird

Das Schreiben solcher Geschichten kann jedoch leicht missverstanden werden – sowohl von Leserinnen als auch von Autorinnen selbst. Wer NonConsent-Szenarien schreibt, läuft Gefahr, echte sexualisierte Gewalt zu romantisieren, Täterverhalten zu verharmlosen und strukturelle Machtgefälle zu vernebeln.

Beispiel einer problematischen Darstellung:
„Sie wehrte sich, aber seine Hände waren stärker. Er riss ihr die Bluse auf, seine Lippen an ihrem Hals, ihr Atem ging schneller. Sie schrie nicht. Sie schlug nicht um sich. Und als er in sie eindrang, stöhnte sie plötzlich auf – nicht vor Schmerz, sondern vor Lust.“

Hier fehlt jeder Hinweis auf ein inneres Einverständnis, auf eine vorherige Absprache oder ein ambivalentes Begehren. Das Erregende wird allein in der Grenzüberschreitung gesucht – ohne psychologische Tiefe.

Besonders problematisch wird es, wenn:

  • die Perspektive der Betroffenen unterbelichtet bleibt
  • psychische und körperliche Folgen ausgeblendet werden
  • die Zustimmung durch “nachträgliches Gefallen” ersetzt wird
  • Machtpositionen (Lehrer-Schülerin, Chef-Praktikantin, Arzt-Patientin) unkritisch dargestellt werden
  • oder wenn sich die Szene nicht eindeutig als Fantasie kenntlich macht

Solche Texte können – ohne es zu wollen – Leser mit grenzverletzenden Neigungen bestärken, in der Überzeugung, dass “Nein” doch “Ja” meint. Auch kann es traumatisierend auf Überlebende realer sexualisierter Gewalt wirken, wenn das Thema unachtsam behandelt wird.


Verantwortungsvoll schreiben: Strategien für Autor*innen

Es ist möglich, Geschichten über Reluctance oder NonConsent zu schreiben – ohne toxische Narrative zu reproduzieren. Die folgenden Leitlinien können helfen:

1. Klare Trennung von Fantasie und Realität

Ein Vorwort oder ein Hinweis im Klappentext kann verdeutlichen: Diese Geschichte ist fiktional und keine Anleitung zu realem Verhalten. Besonders wichtig bei Selfpublishing-Titeln, die keine Verlagsstruktur zur Qualitätssicherung bieten.

Beispiel (Disclaimer im Text):
„Alles, was du gleich liest, ist ein Spiel. Für Außenstehende mag es wie ein Übergriff wirken – für uns war es das Gegenteil: ein gelebter Wunsch, sicher, abgesprochen, gewollt.“

2. Consent-by-Context oder „Sicheres Nein“

Viele Reluctance-Szenen funktionieren auf Basis stiller Übereinkunft: Die Protagonistin widersetzt sich verbal, will aber innerlich. Ein Klassiker im erotischen Rollenspiel – aber im Text muss das für Leser*innen unmissverständlich erkennbar sein. Ein innerer Monolog, der die Ambivalenz zeigt, kann helfen: „Ich wollte das nicht – oder wollte ich es doch?“

Beispiel (innerer Monolog):
„Ich sagte Nein. Ich zog die Schultern hoch, presste die Beine zusammen. Aber mein Unterleib vibrierte vor Erwartung. Ich hatte es mir so vorgestellt, genau so. Er wusste das – und ich wusste, dass er wusste.“

3. Safewords, Kontexte, Codes

Wenn BDSM oder Rollenspiel thematisiert wird, sollte der Text verdeutlichen, dass einvernehmliche Spielregeln herrschen. Ein scheinbarer Übergriff kann Bestandteil eines Spiels sein – aber nur, wenn das vorher abgesprochen ist.

Beispiel:
„Wenn du Stopp sagst, ist alles vorbei. Wenn du Rot sagst, lassen wir alles fallen.“ Sie nickte. „Ich sag’s, wenn’s echt ist. Vorher bin ich nur die, die sich windet.“ Dann band er ihr die Augen zu.

4. Perspektivwechsel: Opfer sichtbar machen

Statt Täterfantasien zu glorifizieren, lohnt es sich, die psychische Komplexität der betroffenen Figur zu zeigen. Was fühlt sie? Wie ringt sie mit Scham, Angst, Erregung? Der Reiz entsteht hier nicht aus der Gewalt, sondern aus dem psychologischen Konflikt.

Beispiel:
„Ich wollte schreien. Ich wollte, dass er aufhört. Doch da war auch ein Teil in mir, der zitterte – nicht vor Angst, sondern vor Lust. Ich verachtete mich für diesen Moment. Aber ich konnte nicht anders.“


Worin liegt der Reiz – für Leser*innen wie Schreibende?

Der Reiz solcher Szenen liegt häufig in der intensiven Emotionalität. Wenn Lust auf Schuld, Angst auf Erregung, Scham auf Begierde trifft, entsteht ein emotionales Hochspannungsfeld, das viele klassische erotische Konstellationen übertrifft.

Beispiel:
Eine Frau sitzt nackt auf einem Stuhl, gefesselt, allein im Raum. Sie hört Schritte. Ihre Brustwarzen sind hart vor Kälte – oder vor Erregung? Sie hasst das Spiel. Und liebt es. Sie will aufhören – und mehr. „Ich wusste nicht mehr, was ich fühlte. Aber ich fühlte etwas. Alles. Jetzt.“

Außerdem erlaubt das Schreiben solcher Geschichten, Tabus zu berühren – ohne sie real zu begehen. Autorinnen erkunden damit auch ihre eigenen Abgründe, Widersprüche und Sehnsüchte. Und Leserinnen spüren vielleicht das erste Mal: „Ich bin mit meinen dunklen Fantasien nicht allein.“

Das kann im besten Fall befreiend wirken – im schlechtesten Fall aber auch Grenzen normalisieren, die nicht überschritten werden sollten.


Verantwortung ist kein Widerspruch zu Lust

Erotische Literatur darf verstören, darf provozieren – aber sie muss auch reflektieren. Wer mit Reluctance oder NonConsent arbeitet, bewegt sich auf einem schmalen Grat. Der Reiz des Verbotenen lebt vom Bewusstsein des Verbots. Sobald dieses Bewusstsein fehlt, kippt die Fantasie in Gefahr.

Autorinnen erotischer Literatur tragen Verantwortung. Aber sie tragen sie nicht allein. Auch Verlage, Plattformen und Leserinnen sind gefordert, aufmerksam zu lesen, mitdiskutieren – und Grenzen zu ziehen, wo Fantasie zu Realität wird.


Writing Prompt für junge Autor*innen:
Stell dir eine Szene vor, in der eine junge Frau auf einem abgelegenen Reiterhof bei einem Sommerpraktikum untergebracht ist. Der Reitlehrer ist attraktiv, aber ruppig. Es kommt zu einem Moment körperlicher Nähe, bei dem unklar bleibt: Ist das ein Spiel? Ein Übergriff? Beschreibe die Szene ausschließlich aus ihrer Perspektive. Lass sie zweifeln, erschrecken, begehren – aber zwinge dich selbst dazu, keine schnelle Auflösung zu liefern. Finde einen Weg, die Ambivalenz in Sprache zu fassen.

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