“Belle de jour” von Joseph Kessel (1928)

Belle de jour“ (dt.: Schöne des Tages) erzählt die Geschichte von Séverine Serizy, einer jungen, attraktiven Frau aus der Pariser Bourgeoisie, die in ihrer Ehe mit dem wohlhabenden, aber emotionslosen Arzt Pierre Serizy emotional und sexuell unerfüllt ist. Trotz ihrer Liebe zu Pierre sehnt sich Séverine nach Erlebnissen, die ihre geheimen und unausgesprochenen Fantasien erfüllen. Als sie durch eine Bekannte von einem exklusiven Bordell in Paris hört, entscheidet sie sich, ihrem verborgenen Verlangen nachzugeben und beginnt, unter dem Namen Belle de jour (Schöne des Tages) als Prostituierte zu arbeiten. Ihre Treffen im Bordell finden tagsüber statt, während ihr Eheleben und ihre bürgerliche Existenz intakt bleiben.

Der Roman erforscht Séverines Doppelleben – die Unterschiede zwischen ihrer züchtigen und keuschen Existenz als Ehefrau und ihren geheimen Abenteuern, die ihre tiefsten erotischen Fantasien ausleben. Im Bordell erfährt Séverine Demütigung, Lust und Macht – all das, was ihr Eheleben nicht bieten kann. Doch diese gefährliche Gratwanderung zwischen bürgerlicher Fassade und sexueller Freiheit führt zu Konflikten und Gefahren, als Séverines geheimes Leben allmählich entblößt zu werden droht.

Warum ist “Belle de jour” ein Meisterwerk der erotischen Literatur?

  1. Erforschung der weiblichen Sexualität und Unterdrückung: Kessels Roman ist bemerkenswert, weil er die innere Welt einer Frau in den Mittelpunkt stellt, die sowohl in ihrer Ehe als auch in der Gesellschaft von der strengen Moral ihrer Zeit eingeschränkt wird. Séverines sexuelle Unterdrückung und ihr Doppelleben im Bordell reflektieren die Widersprüche und Zwänge, mit denen Frauen konfrontiert sind, die ihre Sexualität außerhalb der gesellschaftlichen Normen erforschen wollen.
  2. Psychologische Tiefe: Kessel gibt den Leserinnen und Lesern Einblick in die psychologische Komplexität seiner Protagonistin. Séverines Handlungen sind nicht einfach durch Lust motiviert, sondern durch eine tiefere Sehnsucht nach Selbstentfaltung und Macht über ihre eigenen Begierden, die sie anderswo nicht ausleben kann.
  3. Erotik und Subversion: Belle de jour subvertiert die traditionellen Vorstellungen von weiblicher Sexualität und Ehe. Es ist die Spannung zwischen dem bürgerlichen Anstand und der wilden, ungezähmten Lust, die Kessel meisterhaft darstellt. Erotische Szenen sind nicht bloß physisch, sondern durchdringen Séverines inneres Leben – sie sind Spiegelungen ihrer Ängste, Hoffnungen und inneren Konflikte.
  4. Subtile Poesie der Sprache: Kessel schreibt in einer Sprache, die sowohl direkt als auch elegant ist. Er vermeidet übertriebene Vulgarität und setzt stattdessen auf stilvolle Beschreibungen, die die Erotik sinnlich, aber nicht explizit werden lassen. Die Kunst liegt in der Andeutung und den ungesagten Wünschen, die den Roman durchziehen.

Lohnt sich die Lektüre heute noch?

Auch in einer deutlich libertäreren Zeit ist Belle de jour relevant, weil es nicht nur um sexuelle Befreiung geht, sondern um die psychologischen und emotionalen Konflikte, die oft mit dieser Freiheit einhergehen. In modernen Diskussionen über weibliche Autonomie und Selbstbestimmung in der Sexualität zeigt Kessels Werk, dass solche Themen universell und zeitlos sind. Die Spannung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlicher Erfüllung bleibt auch heute aktuell.

Obwohl wir heute offener über sexuelle Themen sprechen, bleibt die Frage nach der inneren Welt des Begehrens – und wie diese sich zu den äußeren Zwängen verhält – eine ewige Herausforderung. In dieser Hinsicht ist die Lektüre von Belle de jour noch immer faszinierend und lehrreich.

Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans

Joseph Kessel, ein Journalist und Schriftsteller, verfasste Belle de jour 1928 während einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs in Frankreich. Die 1920er Jahre, auch als „les années folles“ bekannt, waren geprägt von einer Lockerung der moralischen Normen und einer Öffnung gegenüber neuen künstlerischen und literarischen Ausdrucksformen, insbesondere im Bereich der Sexualität. Kessels Roman passte perfekt in diese Zeit, in der das Konzept von Ehe, Moral und Weiblichkeit hinterfragt wurde.

Der Roman erregte viel Aufmerksamkeit, war aber auch umstritten, da er das Thema der weiblichen Sexualität und die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft in den Fokus stellte. Dennoch wurde der Roman bald als ein Werk mit großer literarischer Tiefe anerkannt. Spätestens mit der ikonischen Verfilmung durch Luis Buñuel im Jahr 1967, in der Catherine Deneuve die Rolle der Séverine verkörperte, wurde Belle de jour endgültig zum Klassiker der französischen Literatur und des erotischen Films.

Was können Autoren erotischer Literatur heute von dem Roman lernen?

  1. Die Kraft der Andeutung: Kessel zeigt, dass Erotik nicht explizit oder vulgär sein muss, um tiefgreifend zu wirken. Die psychologischen und emotionalen Nuancen der Figuren sind genauso wichtig wie die körperlichen Akte selbst. Autoren heute können von Kessels Fähigkeit lernen, wie man durch Andeutungen, Stille und innere Monologe erotische Spannung erzeugt.
  2. Erforschung von inneren Konflikten: Moderne erotische Literatur kann viel von der psychologischen Tiefe lernen, die Kessel seiner Protagonistin verleiht. Erotik ist nicht nur eine körperliche Erfahrung, sondern oft mit Fragen der Identität, Macht und Selbstfindung verknüpft. Die Erforschung dieser Dimensionen kann die emotionale Resonanz eines Werkes erhöhen.
  3. Gesellschaftliche Reflexion: Erotische Literatur kann auch heute noch gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen hinterfragen. Autoren können von Kessels mutiger Konfrontation mit der Doppelmoral der Sexualität und den unausgesprochenen Wünschen der Gesellschaft inspiriert werden.

Zusammengefasst bleibt Belle de jour auch heute noch relevant, weil es die tieferen psychologischen und gesellschaftlichen Implikationen der Sexualität untersucht. Es ist ein Werk, das weit über das bloße Erzählen von erotischen Erlebnissen hinausgeht und den Leser dazu zwingt, über die Natur des Begehrens, der Identität und der Freiheit nachzudenken.

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