Die Rolle der Nacktheit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater

Das deutsche Theater war schon immer für seine grenzüberschreitende und gewagte Herangehensweise an die Aufführung bekannt. Von kontroversen Themen bis hin zu unkonventionellen Erzählstrukturen – das deutsche Theater hat sich noch nie vor Auseinandersetzungen gescheut. Einer der bekanntesten Wege, dies zu erreichen, ist die Einbeziehung von Nacktheit in Aufführungen. In diesem Artikel wollen wir die Rolle der Nacktheit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater untersuchen.

Nacktheit ist seit dem frühen 20. Jahrhundert ein Teil des deutschen Theaters und war schon immer ein Mittel für soziale und sexuelle Kommentare. Diese Aufführungen verschieben die Grenzen dessen, was als gesellschaftlich akzeptabel gilt, und sprechen gesellschaftliche Normen an, die dem öffentlichen Diskurs verborgen bleiben. Durch die nackte Form auf der Bühne sind die Künstler in der Lage, die Komplexität von Identität, Sexualität und Machtdynamik auf den Punkt zu bringen. Darüber hinaus ist die Nacktheit im zeitgenössischen deutschen Theater zu einem Mittel für Künstler geworden, um das Tabu der Sexualität zu hinterfragen.

Woyzeck-Inszenierungen

Ein klassisches Beispiel dafür ist das Stück Woyzeck von Georg Büchner. In Szene 7, die in Maries Kammer spielt, lässt sich Marie, die Geliebte des Protagonisten, mit einem Tambourmajor, dem Führer eines Spielmannszuges ein. Er redet davon, mit ihr “eine Zucht von Tambourmajors” anzulegen. Sie wehrt sich zunächst, lässt ihn dann jedoch gewähren. Es sei ohnehin alles eins.

Diese Szene ist bei Büchner nicht weiter ausgebaut, wird aber in modernen Inszenierungen häufig benutzt, den Sexualakt auf die Bühne zu bringen. Maries Nacktheit ist in diesem Fall eine Metapher für die Verletzlichkeit von Menschen, die sozial benachteiligt sind, während das Schweigen, das ihre Nacktheit hervorruft, als Mittel benutzt wird, um solche Probleme um des gesellschaftlichen Scheins willen zu verbergen.

Aber auch Woyzeck selbst wird in neueren Inszenierungen immer häufiger nackt gespielt, etwa in Christoph Mehlers Inszenierung 2011 am Staatstheater Nürnberg oder in Sebastian Hartmanns Inszenierung 2015 am Deutschen Theater Berlin. Immer geht es darum, den Menschen in seiner Erbärmlichkeit zu zeigen: “Nacktheit auf der Bühne wirkt immer sehr direkt. Nacktheit zielt auf Intimität und Nähe. Nacktheit steht auch für  Schutzlosigkeit und Hingabe. Deshalb mögen Theaterleute Nacktheit”, schreibt etwa Ronald Meyer-Arlt in einer Rezension der Woyzeck-Inszenierung von Heike Marianne Götze 2012 im Schauspielhaus Hannover.

Franz Castorf

Der deutsche Regisseur Frank Castorf, der für seine provokanten Inszenierungen bekannt ist, bringt oft Nacktheit in seine Aufführungen ein. In seiner Interpretation von Berthold Brechts “Baal” etwa, inszeniert für das Berliner Theatertreffen 2015, in der auf der Bühne gegrapscht, geknutscht und gevögelt wird. Etwas entnervt fragt Sophie Diesselhorst auf nachtkritik.de: “Also, warum, lieber Frank Castorf, müssen die Frauen bei Ihnen immer halb bis fast/ganz nackt sein und auf Stöckelschuhen balancieren? Weil sie das so gut können? Weil sie es so wollen? Weil es so ungeheuer sexy ist, wenn sie dann auch noch intelligent und furios daherreden?”

Castorf sieht die Nacktheit als eine Möglichkeit, die Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne zu entmystifizieren und sie als Menschen zu zeigen. Er möchte die Zuschauer dazu bringen, sich mit den Themen der Stücke auf eine neue Weise auseinanderzusetzen. Nacktheit kann in diesem Sinne als ein Mittel der Entfremdung eingesetzt werden, um die Zuschauer aus ihrer gewohnten Perspektive zu reißen und sie dazu zu bringen, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen.

Außerdem nutzt Castorf Nacktheit, um die sexuelle Energie auf der Bühne zu steigern. Er möchte die Zuschauer dazu bringen, sich mit ihren eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und sich mit den Themen der Stücke auf eine emotionale Ebene zu verbinden. Nacktheit kann in diesem Sinne als ein Mittel der Erotik eingesetzt werden, um die Zuschauer zu fesseln und sie in die Handlung einzubinden.

Letztendlich ist die Verwendung von Nacktheit in Castorfs Inszenierungen immer eine Frage des Kontextes. Er nutzt Nacktheit nicht als Selbstzweck, sondern immer als Mittel, um seine Ideen und Botschaften zu vermitteln.

Drei Hochphasen des nackten Theaters in Deutschland

In ihrem Buch “Theater der Nacktheit” macht Ulrike Traub drei Hochphasen der Nacktheit als Inszenierungsmittel aus:

  1. Die Freikörperkultur in Kaiserreich und Weimarer Republik mit Isadora Duncan, Anita Berber und den Girl-Truppen der Ausstattungsrevuen
  2. Die sexuelle Revolution der sechziger und siebziger Jahre mit dem Musical “Hair”, dem Living Theatre und dem Wiener Aktionismus
  3. die Gegenwart

Während in den ersten beiden Phasen die Nacktheit als Instrument des Protests gegen eine rigide Sexualmoral eingesetzt wurde und somit ideologisch gefärbt war, lässt sich dies für die Gegenwart nicht mehr in gleicher Weise als Erklärungsmuster heranziehen.

Körperpolitik und Geschlechterrollen

Die Kampflinie ist eine andere geworden. Heute, so Traub, geht es um das idealisierte Körperbild der Medien, das nur den optimal geformten Körper goutiert. “An die Stelle religiös motivierter Gängelung des Körpers ist ein säkularer Schönheitskult getreten, welcher nur scheinbar ein liberaler ist,” schreibt sie. Statt die Scham zu überwinden, führt die neue Freizügigkeit lediglich dazu, den kritischen Blick zu fürchten. Wenn nackte Körper heute überhaupt noch anstößig wirken, dann deswegen, weil sie nicht perfekt sind.

Insofern dient die Verwendung von Nacktheit im zeitgenössischen Theater auch dazu, die Fragen der Körperpolitik und Geschlechterrollen aufzugreifen. Nacktheit kann eine wirksame Möglichkeit sein, Stereotypen zu dekonstruieren und alternative Narrative zu präsentieren. Im deutschsprachigen Theater sind Produktionen entstanden, die sich explizit mit Themen wie Körperbild, sexueller Identität und Machtverhältnissen auseinandersetzen. Indem Nacktheit als Instrument genutzt wird, werden neue Perspektiven auf diese wichtigen gesellschaftlichen Diskussionen eröffnet.

Der menschliche Körper als Ausdrucksmittel

Statt nur als Schockelement oder zur reinen Ästhetik verwendet zu werden, wird der nackte Körper als Ausdrucksmittel genutzt, um eine tiefere Verbindung zwischen den Darstellern und dem Publikum herzustellen. Durch die Nacktheit werden die Schutzschilde des Alltags abgeworfen und die Charaktere werden in ihrer Verletzlichkeit und Authentizität präsentiert.

So in Ewelina Marciniaks Inszenierung des “Sommernachtstraums” aus dem Jahr 2018 am Theater Freiburg. Thieß Brammer, einer der Akteure des Stücks, sagt dazu in einem Interview mit der Badischen Zeitung: “Es war der Regisseurin wichtig, dass wir die Nacktheit nachvollziehen können und als Schauspieler verstehen. Es gibt ja auch Inszenierungen, in denen sie bloß cool sein oder schockieren will. Das Nacktsein war immer inhaltlich untermauert.”

In einer Szene des “Sommernachtstraums” gehen die Schauspieler nackt ins Publikum. “Die Regisseurin wollte die größtmögliche Fallhöhe”, so Brammer. “Dass wir nicht nur den Genuss auf der Bühne spielen, sondern auch das Publikum Genuss hat. Ich schaue immer vorher, wer im Publikum nett aussieht und gehe dann da erst einmal hin.” Und seine Kollegin Rosa Thormeyer ergänzt: “Titania sagt kurz vorher, dass es im Wald nur Freuden gibt. Und diesen Moment der absoluten Freude soll diese Szene im Publikum darstellen.”

Tabubruch und Enttabuisierung

Nach wie vor wird Nacktheit im Theater aber auch gern genutzt, um die Grenzen des Möglichen auszuloten und das Publikum mit ungewöhnlichen Perspektiven zu konfrontieren. Durch die Enttabuisierung der Nacktheit wird der Fokus auf die menschliche Erfahrung und die Reflexion über unsere eigene Körperlichkeit gelenkt. In Jürgen Goschs legendäre Düsseldorfer „Macbeth“- Inszenierung von 2005 trat der komplette Cast nackt auf: allesamt Männer gehobeneren Alters, die sich auf der Bühne mit Blut übergossen, pinkelten und in ihrem eigenen Kot herumrutschten.

Nacktheit im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater ist viel mehr als nur Haut, und der Einsatz von Nacktheit in Aufführungen birgt ein breites Spektrum an Bedeutungen. Es ist eine Möglichkeit für Künstler, gesellschaftliche Normen herauszufordern und zu hinterfragen, was als akzeptabel gilt. Die Einbeziehung von Nacktheit in ein Stück ist eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen und bietet eine Möglichkeit, menschliche Erfahrungen in ihrer reinsten Form auszudrücken. Manche mögen Nacktheit als unanständig empfinden, aber das deutsche Theater will den Menschen helfen, sich mit ihrer anderen Identität auseinanderzusetzen, ohne über Unterschiede, Geschlecht und Kultur zu urteilen. Der Einsatz von Nacktheit im zeitgenössischen Theater wird nicht nur bestehen bleiben, sondern wahrscheinlich auch weiterhin Grenzen überschreiten. Nacktheit war schon immer ein Mittel der Kunst und des Ausdrucks, das die Grenzen der gesellschaftlichen Normen auf unerwartete Weise verschiebt.

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