Bereits seit Tagen geht mir ein Leberfleck nicht mehr aus dem Sinn. Nun ist es nicht so, dass ich nicht schon eine ganze Reihe Leberflecken, durchaus auch an pikanten Stellen, gesehen hätte. Insofern bin ich selbst etwas verwundert darüber, dass dieses Bild mich verfolgt, seit ich das erste Mal davon gelesen habe.
Aber mit diesem Fleck hat es eine besondere Bewandtnis. Er sitzt an der Seite der linken Brust einer schönen, jungen Frau. Imogen heißt sie und ist die Tochter von König Cymbeline in der gleichnamigen, wenig bekannten Tragödie von Shakespeare.
In vielerlei Hinsicht ist das Stück eine Vorübung zu „Romeo und Julia“. Aber ein Plottwist dreht sich eben um jenes Muttermal. Und weil ihm in der Geschichte so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, bleibt dieses Detail eben auch besonders haften.
Imogen ist auf Wunsch des Vaters mit Prinz Cloten verlobt, aber heimlich in den jungen Posthumus verliebt. Nun heiratet sie gegen den Willen des Vaters Posthumus. Der wird postwendend nach Italien verbannt.
Zum Abschied gibt er Imogen ein Armband und erhält im Gegenzug von ihr einen kostbaren Ring. Auf diesen Ring nun hat es der Soldat Iachimo abgesehen. Er schlägt Posthumus eine Wette vor: Mit einem verbannten Mann wird es Imogen nicht lange allein aushalten, und es wird ihm, Iachimo, ein Leichtes sein, sie zu verführen:
Die Eure, deren Festigkeit Ihr für so unerschütterlich haltet. Ich setze zehntausend Dukaten gegen Euren Ring, mit dem Beding, Ihr empfehlt mich an den Hof, wo Eure Dame lebt, ohne mehr Begünstigung als die Gelegenheit eines zweiten Gesprächs, und ich bringe von dort diese ihre Ehre mit, die Ihr so sicher bewahrt glaubt.
In der Tat lässt Imogen den Soldaten gnadenlos abblitzen. Der verfällt daraufhin einer List. Er, der ja immerhin ein Empfehlungsschreiben ihres Mannes mit sich führt, bittet die Prinzessin, eine Truhe bei ihr abstellen zu dürfen, die seinen wertvollsten Besitz enthält. Imogen lässt dies zu, die Truhe wird geliefert und im Schloss abgestellt.
Nachts klettert Iachimo selbst aus der Truhe heraus, schleicht sich zum Schlafgemach der Prinzessin und begutachtet sie ausgiebig. Dabei entdeckt er auch ihren Leberfleck an der Seite der Brust. Als zusätzlichen Beweis, dass er bei ihr war, entwendet er noch das besagte Armband.
So kehrt er zurück nach Italien und behauptet Posthumus gegenüber, die Wette gewonnen zu haben. Er gibt ihm das Armband und beschreibt ausführlich das Schlafgemach der Prinzessin. Doch Posthumus bleibt skeptisch. Er gibt sich erst geschlagen, als Iachimo ihm das Muttermal beschreibt:
Wenn Ihr fordert noch stärkre Proben: Unter ihrer Brust, so wert des Druckes, ist ein Mal, recht stolz auf diesen süßen Platz. Bei meinem Leben, ich küßt es, und es gab mir neuen Hunger zu frischem Mahl nach dem Genuß. Erinnert Ihr Euch des Mals?
Diese Geschichte – und meine Reaktion darauf – lässt mich neu über die Funktion erotischer Details nachdenken. Was macht unsere Protagonisten unverwechselbar? Was sind die Einzelheiten der Körper, die sich dem Leser über Tage hinweg einprägen?
Wir brauchen nicht darüber zu reden, dass Floskeln wie „ein wunderschöner Busen“ etc. zu den Nullaussagen gehören, die sofort nach dem Lesen wieder vergessen sind und oft wohl nicht mal ein Bild evozieren. Das Gehirn ist nicht in der Lage, solche wertenden Urteile in Bilder zu übersetzen. Daher bleibt die Beschreibung blass. Im besten Fall legt der Leser an dieser Stelle das Buch aus der Hand und stellt sich eine Brust vor, die er persönlich “wunderschön” findet. Er ruft also Bilder hervor, die ohnehin schon in ihm abgelegt sind. In diesem Fall aber zeigt Literatur nichts Neues auf, sondern beruft sich auf Altbekanntes. Für den Leser gibt es keinen Grund, diese Bilder mit einem Autorennamen zu verbinden.
Nun haben wir in den seltensten Fällen in Kurzgeschichten den Raum, eine Frau vom abgebrochenen Zehennagel, über das Bachnabelpiercing, bis zur herauswachsenden Farbe am Haaransatz zu beschreiben. Umso wichtiger ist es für uns, jene Details hervorzuheben, die sich dem Leser einprägen sollen und so die Protagonisten unverwechselbar machen. Genau so, wie wir, wenn wir einen Raum beschreiben, auch nur die wichtigsten Elemente pars pro toto erwähnen.
Denn das ist ja die Funktionsweise unseres Gehirns: Beim Lesen werden Bilder erzeugt, und je spezifischer ein Autor diese Bilder malt, desto länger bleiben sie haften. Wenn ich es schaffe, dass einem Leser eine Beschreibung über Tage hinweg nicht aus dem Kopf geht, habe ich ihn für mich gewonnen. Das ist so effektiv wie ein dauernd wiederholter Werbejingle im Radio.